Beilage zum Nendsburger Wochenblatt 9îr. 44.
v) Die Schönheit von Drowningham.
Von Helme v. Götzendorff-Grabowski.
„Wollen Sie mir sagen, daß jener Gentleman
dort auf der Wiese, links, nicht der sehr ehrcnwerthe
Sir Thomas Carteret sei, Lovedale? Sic würden
damit kein Glück haben, denn ich bin meiner Sache
gewiß," sagte der Colonel zu dem Maler, während
sie nebeneinander im Schritt die Dorfstraße hinab
auf Vaverne - Castle zuritten. Sie hatten diesen
Nachmittag zn einem Ansflugc nach dem nächsten
Flecken, wo man ein kirchliches Fest feierte, benutzt
und kehrten nun heim, um das Luncheon mit dem
Earl einzunehmen.
„Ich bin durchaus Ihrer Ansicht. Jener Mann
ist Sir Thomas, erwiderte der Maler. „Aber was
in aller Welt kann ihn hergeführt haben?! Hierher,
wo wir, wie ich glaubte, sicherer als am Nordpol
oder auf Hawaii vor einem Rencontre mit Londoner
„Clubbrüdern" sein würden!"
„Das »vollen wir ans dem kürzesten Wege zu
erfahren suchen. He! Carteret! Sir Thomas! So
hören Sie doch! Hier sind zwei Burschen, welche
Ihnen ihren Respect zu bezeugen wünschen!"
Der Colonel lenkte sein Pferd mit größter Eil
fertigkeit zu dem einsamen Spaziergänger hinüber,
während er denselben mit seiner lauten, hallenden
Stimme anrief.
Durchaus nicht sonderlich überrascht wendete der
Fremde sich um. „Ah, Sir Marcus! und Mr.
Lovedale! Das nenne ich übrigens Glück! Eben auf
dem Wege, Sie aufzusuchen, Dent, führt mir der
Zufall mein Ziel entgegen."
„Erlauben Sie, Sir Thomas: mich aufzusuchen! ?
Wem, wenn ich fragen darf, verdanken Sie die
Kunde, daß ich mich von Paris ans hierher begeben?"
„Meiner gewissenhaftesten Berichterstatterin: der
Zeitung!" entgegnete der Andere ein wenig sarkastisch.
„Die Blätter brachten das Unglück des Earl so
detaillirt, als möglich; natürlich mit gebührender
Discretion: Sie hatten die Ehre, als Secundant
Sr. Lordschaft gleichfalls eine Rolle darin zu spielen.
Man erwähnte zum Schluß leichthin, daß der Re-
convalescent sich in Begleitung zweier Freunde auf
seinen Stammsitz V.-C., woraus jedes Kind sich
Vaverne - Castle zu entziffern in» Stande gewesen
wäre, zurückgezogen. Item —"
„Hm! Und Sie, Sir Thomas, Sie wollen doch
nicht sagen, daß Sie aus zärtlicher Anhänglichkeit
meinen Spuren gefolgt seien, wie jenes deutschen
Poeten Katharina von Heilbronn ihrem Grafen von
Strahl?"
„Nicht ganz das, Sir Marcus! Sic würden es
mir doch nicht glauben. Aber daß ich einige Meilen
Mittwoch, den 10.
machte um Ihretwillen, daß es mir ein Vergnügen
ist, Sie Alle hier wiederzusehen, darf ich hoffentlich
behaupten, ohne einem Zweifel Ihrerseits zu begegnen.
Sehen Sie, mich hat eine Erbschaftssache in die
Nähe von Vaverne - Castle geführt. Dort drüben
im Westen die kleine Bicariage, tvelche bislang einem
Vetter von mir gehörte, ist unlängst an mich ge
fallen. Da ich mich ohnedies auf Reisen befand,
erschien es mir angemessen, das unbekannte Erbthcil
einmal in Augenschein zu nehmen. Das Ergebniß
war ein recht erfreuliches. Die Bicariage ist eine
kleine Perle!"
„Ein angenehmer Zufall, Sir Thomas! Wie
lange werden wir nun die Frende haben, Sie hier
zu sehen?"
„Wußte ich das jemals zu sagen, Sir Marcus,
wenn wir einander auf Reisen trafen? Kennen Sie
mich als einen Mann, welcher zu wissen glaubt,
oder auch nur zn wiffcn wünscht, was ihm der
nächste Tag bringt?"
„In der That: nein! Sie lassen Sich vom
Lebensstrom treiben, wie es eigentlich Jeder von uns
thun sollte. Sie überlassen Ihrem „Kismet" die
Sorge für die nächste Stunde mit einer Zuversicht,
welche der höchsten Belohnung werth wäre!"
„Vielleicht wird sie mir noch! Wir standen nie
mals besser mit einander: mein Kismet und ich,
als in diesen Tagen. Doch nun ein Anderes,
Gentlemen: wo nehmen wir unser Frühstück?"
„Beim Earl, wenn es Ihnen genehm ist, Sir
Thomas. Derselbe wird sich freuen, einen fremden
und doch nicht fremden Seefahrer auf seiner Insel
der Glückseligkeit willkommen heißen zu dürfen."
Der Colonel und Percy Lovedale verließen ihre
Pferde, dieselben der Obhut eines vorübergehenden
Knaben anvertrauend, und schlugen dann, Sir Tho
mas Carteret, den Gentleman mit den durchdringenden
Augen, in ihre Mitte nehmend, den Weg nach
Vaverne Castle ein.
„Der T soll mich holen, wenn Carteret
nicht einen ganz besonderen Grund hat, diesen Ort
mit seiner Gegenwart zu beehren!" sagte der Co
lonel Abends zu seinem Vertrauten, dem schweig
samen Lovedale. „Der alte Habicht! Als ob er
nicht immer eine besondere Beute ini Auge hätte,
wenn er auf Raub ausgeht!"
Der Maler, welcher eben mit dem Reinigen seiner
Palette beschäftigt war, blickte ernsthaft auf. „Da
thun Sie ihm unrecht, Sir Marcus, in der That!
Carteret ist durchaus geradezu. Ihm gelten Welt
und Menschen nicht genug, um irgend etwas vor
ihnen geheim zu halten. Er geht so unbeirrt und
offenbar seine Wege, als gäbe es nur um seinet
willen Dinge, wie Straßen oder Eisenbahnen."
April 1888.
„Recht schön. DaS glaubt Ihr Alle. Aber,
mein guter Percy: „Aufrichtigkeit ist die beste List!"
Nun, wir wollen noch ein Stündchen zum Billard
gehen und Sir Thonias thun lassen, was er mag.
Ich möchte übrigens wissen, ob unser gnter Freund
hinsichtlich der „Schönheit" bereits Fühlung hat."
„Wenn ich Ihr „guter Freund" bin, Sir Marcus,"
sagte in diesem Augenblick die Stimme des „alten
Habicht", „so kann Ihr Wunsch ohne Mühe erfüllt
werden. Wollen Sie mir einen Stuhl gestatten,
Mr. Lovedale? Ich kam, Sie Beide zu einem kleinen
Jeu abzuholen; der Earl lud mich ein, in Vaverne-
Castle zu übernachten."
Damit ließ Sir Thomas Carteret sich unbekümmert
in einen Sessel sinken und klemmte dann sein Mo
nocle ins Auge, den Colonel mit seinem scharfen,
concentrirten Blick fixirend.
„Ich habe nicht nur „Frühling" hinsichtlich der
„Schönheit", Sir Marens, sondern kannte dieselbe
längst durch den Mund der Leute. Ich recognoscirte
sie auch, nebst den sonstigen Sehenswürdigkeiten dieser
lieblichen Gegend, wie ich es, das wissen Sie ja,
an fremden Orten zn halten pflege. Ich habe ge
funden, daß vox populi dieses Mal nicht zu viel
gesagt, und habe endlich das Glück gehabt, mit der
„Schönheit" und deren sehr ehrenwerthem Bater
einige hübsche Plauderstunden im Garten der Sted-
mans verleben zu dürfen, denen der Gesang des
Mädchens, welcher durchaus nichts Exquisites, aber
eigenartig reizvoll ist, noch einen besonderen Zauber
verlieh. Item —•"
Der Colonel lachte. Es war ein gezwungenes
Lachen. „Item," wiederholte er, „so werden Sie
vermuthlich das Vergnügen haben, dem Earl dort
gelegentlich zu begegnen. Er liebt es, gleich Ihnen,
im Garten der Stedmans zu rasten. Die „Schön
heit" und ihre „Mary Gray" scheint größeren An
theil an seiner wicdererwachenden Lebenslust zu haben,
als die Medicamentc seiner Aerzte."
„Begreiflich, Sir-Marcus! Als ich Miß Sted-
man zum ersten Male, vor der Kirche von Brow-
ningham, sah, veranlaßte mich das, meinen Wagen
zu verlassen und ihr in das Gotteshaus zu folgen.
So werde ich es wahrscheinlich auch weiterhin thun,
bis — aber nun vorwärts, Gentlemen! Soll der
Earl, mit den Boston - Karten in der Hand, den
ganzen Abend die Statue des Spiels vorstellen in
seinem einsamen Rauchzimmer?"
Er schritt den Beiden voran, die Corridore ent
lang ; sie folgten ihm, während Lovedale seinen Arm
unter den des Colonel schob, mit der leise geflüsterten
Frage: „Nun, Sir Marcus? Läßt seine Aufrichtigkeit
etwas zu wünschen übrig?"
„Der T hole den ganzen Carteret!"
war die zwischen den Zähnen hervorgestoßene Er
widerung.
Sechstes Kapitel.
Gegen die „Raubvögel".
Ter Earl von Vaverne fand an seinem neuesten
Gast so großes Gefallen, daß er ihn ersuchte, doch
zum mindesten mehrere Tage auf Vaverne Castle zu
verweilen. Nicht allein, daß Sir Thomas Carteret
die ganze Welt gesehen hatte und von ihren Wundern
in ungewöhnlich fesselnder Art zu sprechen wußte;
es lag auch in seiner Persönlichkeit eine besondere
Anziehungskraft für den Earl. Der Freimuth, mit
welchem Sir Thomas „geradeaus ging" in Worten
und Werken, und sein kräftiger, mit einer schwachen
Nuance von Melancholie versetzter Humor schlugen
verwandte Saiten in der Seele seines jugendlichen
Wirthes an. Was ihn selbst betraf, so fühlte er
sich sichtlich wohl in dem alten Haus, und hatte
nichts dagegen, es für so lange zu seiner Heimath
zu machen, als es ihm überhaupt möglich war, an
einem Ort auszuhalten.
Während Mr. Lovedale den Lauf der Dinge mit
seinem stillen Blick und ernsten Lächeln verfolgte,
hatte der ehrenwerthc Sir Marcus Dent seinen
hellen Aerger daran. „Tausend gegen Eins, Percy,"
sagte er, während sie miteinander auf der Schloß-
terrasse ihre Abendcigarre rauchten, „der alte Habicht
fährt nächstens mit der Beute auf und davon! Ich
bin sicher, daß er Browninghain um sein bestes
Eigenthum ärmer zu machen gedenkt. Der alte
Stcdman und er verstehen einander. Sic convcrnren
stundenlang über die Aufbewahrung von Tulpen
zwiebeln oder über die Erzielung einer neuen Nclken-
farbe, während die „Schönheit" mit ihrer sittsamen,
kleinen Visage daneben sitzt und bei der Näharbeit
ihre alten Lieder summt! Ich sehe nicht ein, Love
dale, warum gerade er, der Eindringling, diese Rolle
spielt! Glauben Sic mir, daß er seine schönen,
weisen Bemerkungen über Tulpen und Nelken sämmt
lich Broome verdankt, dessen „Pflanzenkunde" auf
seinem Zimmer, wie mir Baptiste sagt, in sechs
Bänden zu finden ist."
(Fortsetzung folgt).
Vermischtes.
— Kaiser Wilhelm als ZeitungSkorrektor.
Das „ Berliner Frcmdcnblatt" veröffentlicht
einen eigenhändigen Brief des Kaisers Wilhelm, der
einige Versehen rügt, welche in einem Artikel untcr-
lanfcn waren, der sich auf den Geburtstag des da
maligen Kronprinzen und jetzigen Kaisers Friedrich
bezog. Der Brief, welchem die betreffende Nummer
des „Berl. Fremdcnblatt" beilag, worin Kaiser