Full text: Newspaper volume (1888, Bd. 1)

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MounementSpreiS: 
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No. 28. 
Wontag, 
1888. 
Das Befinden des Kronprinzen. 
Die ungünstigen Gerüchte über den Gesund 
heitszustand des Kronprinzen wollen nicht ver- , 
stummen. Namentlich die auswärtige Presse, auch 
selbst die „Köln. Ztg.", registrirten eine ganze An 
zahl der wildesten Alarmgerüchte, die über den Zu 
stand des Kranken in San Remo kolportirt 
werden. Wir enthalten uns der Wiedergabe dieser 
Sensationsnachrichten um so lieber, als sie im 
Widerspruch stehen zu den amtlichen Bulletins, die 
sämmtlich hoffnnngsfreudiger lauten. 
Tau Remo, 1. März. (B. T.) Man erzählt 
sich Details angeblicher Scenen zwischen den ein 
zelnen Gruppen von Aerzten, welche ihrem 
gegenseitigen „octinm inoàloum" in nicht gemäßigten 
Worten Luft gemacht hätten; da soll der eine krön- 
Prinzliche Arzt einen andern hierher berufenen Spe 
zialisten weder gesehen noch gesprochen haben, auch 
hätte er mit ihm zu konsultiren sich geweigert. Man 
erzählt peinliche Einzelheiten, wie der Eine grollt, 
der Andere schmollt; wie eine sehr hohe Persön 
lichkeit selbst vor allen Leuten sich veranlaßt gesehen, 
den einen abseits bleibenden Arzt gleich dem schmollen 
den Archilles ans seinem Hotel abzuholen und lange 
mit ihm in ernstem Gespräche verweilt habe, worauf 
der betreffende Arzt trotz seiner ursprünglichen 
Weigerung doch zur Morgenkonsultation nach der 
Villa Zirio gegangen sei, wo er mit den Kollegen, 
obgleich mit Ausschluß eines einzigen von ihnen, 
konsultirt hätte. Man erzählt, wie die Aerzte über 
verschiedene sehr wichtige Punkte sich geradezu 
m den Haaren lägen und die entgegengesetzten An 
sichten verfochten hätten. Man kolportirt ferner, 
daß einer der Aerzte vor einigen Nächten aus Un 
erfahrenheit oder Mangel an Geschick beinahe das 
größte Unglück verursacht hätte, tvelches nur durch 
einen andern rasch geweckten und herbeigeholten 
Kollegen hätte verhütet werden können. Alles das 
und noch mehr wird von den Leuten auf der Straße 
laut, Jedem, der es hören will, erzählt. Wie wenig 
oder wie viel davon Anspruch auf ernstere Beachtung 
hat, ist leider zu kontroliren jetzt ganz unmöglich. 
— Der „Reichs-Anzeiger" veröffentlicht am 
Freitag folgendes Bulletin aus San Remo: 
San Remo, 2. März, 11 Uhr 45 Minuten 
Bormittags. Nach einer guten Nacht ist auch 
heute das Befinden Sr. Kaiserlichen und König 
lichen . Hoheit des Kronprinzen besser und die 
Stimmung gehoben. Der Appetit hat in den 
letzten Tagen zugenommen, Husten und Auswurf 
wie bisher. 
Mackenzie. Schrader. Krause. Hovcll. Bramann 
® #n J Rcra °, 2 ' März. Der Kronprinz er- 
schren Mittags auf dem Balkon und wurde vom 
Publikum durch Schwenken der Hüte und Tücher 
freudig begrüßt. Er dankte durch Abnehmen des 
Hutes. Der Kronprinz promenirte eine Zeit lang, 
setzte sich dann in einen Lehnstuhl und las Zeitungen. 
Seine Haltung ist aufrecht. Wir haben warmes 
Wetter und wolkenlosen Himmel. Der Patient soll 
gut geschlafen haben. 
— Der „Reichsanzeiger" veröffentlicht am Sonn 
abend folgendes Bulletin ans Sau Remo: 
San Remo, 3. März, 10 Uhr 30 Min. Vorm. 
Die Wiedergewinnung der Körperkräfte Sr. Kaiser 
lichen und Königlichen Hoheit des Kronprinzen macht 
Fortschritte; Höchstdieselbcn bringen einen Theil des 
Tages auf dem Balcon zu. Schlaf und Auswurf 
wie früher. 
Mackenzie. Schrader. Krause. Hovell. 
v. Bergmann. Bramann. 
Vorstehendes Bulletin ist zum ersten Male wieder 
auch durch Prof. v. Bergmann unterzeichnet, nach 
dem letzterer seit Montag die Bulletins nicht mehr 
unterzeichnet hatte. 
— Vom Freitag werden noch folgende Einzel 
heiten gemeldet: Es herrschte prächtiges Frühlings 
wetter, tvas auf den Zustand des Patienten günstig 
einwirkte. Der Kronprinz hatte gut geschlafen, der 
Appetit und die Stimmung waren besser. Nach 
dem Morgenbesuch der Aerzte stand der Kronprinz 
auf. Alle auf den Balkon mündenden Salonthüren 
wurden geöffnet, ein Windschirm und ein Sessel 
hinausgebracht. Gegen 10 Uhr erschien der Kron 
prinz auf dem Balkon ini braunen Mantel und 
einem weichen Hütchen. Die Kronprinzessin begleitete 
ihn. Der Kronprinz ging auf dem Balkon mehr 
mals auf und ab, die Grüße des Publikums mit 
Lüften des Hutes erwidernd. Die Haltung war 
aufrecht, der Vollbart ist unversehrt. Zuerst leistete 
Mackenzie dem Kronprinzen Gesellschaft, nachher 
erschien Prinz Wilhelm und begrüßte den Vater niit 
Umarmung, Nachmittags erschien der Kronprinz 
wiederum von 1—2 Uhr mit der Kronprinzessin 
und den Töchtern auf dem Balkon und nochmals 
von 3—3'/ 2 Uhr in Gesellschaft Mackenzies. Meist 
saß der Kronprinz in den Mantel gehüllt hinter 
einem Windschirm im Sessel und las Zeitungen. 
— Ein Extrablatt des „Reichs-Anzeigers" ver 
öffentlicht das folgende Bulletin: 
San Remo, 4. März, 10 Uhr 50 Min. Vorm. 
Der Zustand Sr. Kaiserlichen und Königlichen 
Hoheit deS Kronprinzen ist unverändert. 
Mackenzie. Schrader. Krause. Hovell. 
von Bergmann. Bramann. 
San Remo, 4. März. Es wurde beschlossen, 
das Resultat der mikroskopischen Untersuchungen des 
Herrn Professor Waldeyer jedenfalls nicht zu 
publiciren. 
— In einer gefährlichen Situation soll 
sich, nach dem Bericht mehrerer Zeitungen, der Kron 
prinz um Mittwoch-Abend befunden haben, weil 
während eines starken Hustens die Kanüle aus der 
Luftröhre geflogen war, und der wachthabende Arzt 
in den Manipulationen damit nicht Bescheid wußte; 
es konnte noch rechtzeitig ein zweiter Arzt geweckt 
werden. 
— Die gestrige Abend-Ausgabe der „Nordd. 
Allgem. Ztg." giebt nachstehende Meldung des be 
kannten Kopcnhagener Blattes „Politiken" wieder: 
„Der Kronprinz hat in den letzten Tagen sein 
Testament für alle Fälle gemacht, ebenso ein po 
litisches Testament für seinen Sohn, den 
Prinzen Wilhelm." Das Blatt „Politiken" 
zeigt sich gewöhnlich gut unterrichtet; cs ist auch be 
zeichnend, daß die „Nordd. Allg. Ztg." diese Mel 
dung wiedergiebt. Weiter wird von den „Politiken" 
gemeldet: „Augenzeugen aus San Remo berichten, 
daß die Leiden der letzten Wochen dem Kronprinzen 
ein um viele Jahre älteres Aussehen gegeben haben: 
der Bart ist ganz weiß, und er ist gleichfalls sehr 
mager geworden. Der einst so kräftige Mann 
wiegt jetzt kaum 70 Kilo. 
Petersburg, 4. März. Der „Grashdanin" be 
hauptet, daß der Prinz F e r d i n a n d v o n K o b u r g 
die Absicht hege, behufs Umstimmung Rußlands 
zum orthodoxen griechisch-katholischen 
Cultus überzutreten; Rußland würde ihn trotzdem 
niemals anerkennen, da der Prinz in Wirklichkeit 
Bulgarien die Union bringen und es dem Papst 
unterwerfen wolle. 
Bulgarien. Die Nachricht von der Einberufung 
einer Konferenz zur Erörterung der bulgarischen 
Angelegenheit wird schon wieder in Abrede gestellt. 
Die „Nordd. Allg. Ztg." erklärt officiös, „daß 
alle umlaufenden Nachrichten über eine beabsichtigte 
Konferenz in der bulgarischen Sache völlig un 
begründet seien. Bon keiner Seite sei ein 
Wunsch nach einer solchen Konferenz oder auch nur 
eine Anregung dazu kundgegeben tvorden." 
Wien, 1. März. Ende Februar wurden hier 
Gräfin Mathilde Schmettow und deren beide 
Töchter Desirö und Mathilde verhaftet und dem 
Landgerichte eingeliefert. Die Gräfin Schmettow 
wird von Jnsbruck, woselbst sie einem Juwelier 
Waaren herausgelockt hat, steckbrieflich verfolgt. Auch 
von Dresden traf ein Steckbrief gegen die gräfliche 
Familie ein, welche zunächst nach Innsbruck abge 
liefert werden dürfte. Gräfin Schmettow stammt 
aus einer aristokratischen Familie in Ungarn und 
war mit einem dort eingewanderten Deutschen ver- 
heirathet, bei dessen Tode sie mittellos zurückblieb. 
Paris, 1. März. DaL heute gegen Wilson 
erlassene Urtheil hat in parlamentarischen Kreisen 
höchlichst überrascht. Deputirte aller Parteien, von 
Cassagnac bis Clovis Hugues, und selbst seine er 
bittertsten Feinde, halten das Urtheil für zu streng. 
Wilson wird Berufung einlegen. 
Paris, 1. März. Der „France" wird aus 
Saint-Mihiel vom gestrigen Tage berichtet: „Letzten 
Dienstag hat sich ein sehr ernster Fall in Saint- 
Mihiel zugetragen Eine Eskadron des 6. Jäger 
regiments, etwa hundert Mann, hat das Haupt- 
quartier früh Morgens verlassen und ist aus- 
gerissen. Große Aufregung. Der Eskadronschef, 
welcher interimistisch das Regiment kommandirt, 
tvird sofort benachrichtigt und sendet den Flücht 
lingen eine Eskadron nach. Erst nach achtstündigen: 
Reiten konnten alle Flüchtlinge zurückgebracht werden. 
Gleichzeitig war eine Depesche nach Commercy an 
den kommandirendcn General der Kavallerie-Brigade 
des 6. Korps abgeschickt worden. Dieser General 
ist nach Saint-Mihiel gekommen und hat die so 
fortige Einsperrnng einer gewissen Anzahl der 
Rädelsführer angeordnet. Welches war die Ursache 
dieses Handelns? Man sagt, die Jäger klagen dar 
über, daß sie von ihren Vorgesetzten mißhandelt 
werden. 
Rom, 2. März. Die gestrigen Unruhen scheinen 
doch bedeutender gewesen zu sein, als zuerst ange 
nommen wurde. Beispielsweise wurden B r o d - 
lüden in nächster Nähe des Korsos, in der Via 
Frattina, gestürmt, ebenso wurde ein Juwelier- 
laden am Foro Trojano durch Diebcsgesindel ge 
plündert, welches die Arbeiter-Manifestationen zu 
seinen Zwecken ausnützte. Wenn beim Ansturnr 
der Arbeitermassen auf das Kapitol und gegen das 
Militär nicht furchtbares Unglück geschah, so war 
dies dem sozialistischen Deputirten Costa.zu ver 
danken, dessen Autorität der hungrigen und tobenden 
Menge allein noch imponirte. Unter den Ver 
wundeten von gestern soll sich Ricciotti 
Garibaldi befinden, derselbe ist angeblich durch 
einen Bajonnetstich verletzt. Dreihundert Ar 
beiter wurden verhaftet. Abends käm es 
bei der Via Nationale wieder zu einem Zusammen 
stoß zwischen Arbeitslosen und den Truppen. Die 
Gesammtzahl der Arbeitslosen betrügt über 20000, 
es sind überwiegend Familienväter. Laut Meldung 
des „Popolo Romano" wird die römische Garnison 
heute durch Truppen aus der Provinz verstärkt. 
Die Konimune und die Regierung thun Schritte, 
um schnellstens öffentliche Arbeiten einzuleiten. Das 
gcsammte Geschäftsleben Roms leidet bitter unter 
dieser Arbeiterkrise und der dadurch hervorgerufenen 
Uusicherheit. 
Brüffel, 28. Febr. Ein blutiges Ehedrama 
hat sich in vergangener Nacht auf dem Boulevard 
Anspach abgespielt. Die Frau eines Kafsirers in 
dem größten Modewaaren-Geschäfte Brüssels, hatte, 
von Eifersucht und Rachegeist getrieben, ihrem Manne 
vier Stunden lang auf offener Straße aufgelauert. 
Als dieser kurz nach 3 Uhr, nachdem er vorher 
seine Maitresse entlassen, aus einem Wirthshause 
heraustrat, gab es einen heftigen Wortwechsel 
zwischen den entzweiten Ehegatten, der damit endete, 
daß die wüthende Frau einen Revolverschuß auf 
ihren Mann abfeuerte, durch den dieser lebens 
gefährlich am Kopfe verwundet wurde. Das 
jämmerliche Geschrei des Verwundeten rief die 
Polizei herbei, welche die Frau weinend auf ihrem 
Opfer liegend fand und reuevoll rufen hörte: „Mein 
Gott! ich habe ihn umgebracht!" Sie wurde ver 
haftet. 
In Villcjo in Kalifornien explodirte am 27. v. 
M. der Kassel des Dampfbootes „Julia", während 
das Schiff mit fünfzig Personen an: Bord über 
den Fluß fuhr. Nahezu vierzig Personen sind ge- 
tödtct, die übrigen verwundet worden. Das Boot 
wurde derart zertrümmert, daß von demselben keine 
Spur vorhanden ist. 
Christiania, 1. März. Eine große Verwüstung 
soll in Folge eines großen Brandes in der Stadt 
Bergen angerichtet worden sein. Mehrere S.adt- 
theile waren Donnerstag abends stark bedroht. 
Bergen ist nächst Christiania die volkreichste. Stadt 
Norwegens. Es hat 47 000 Einwohner und die 
Häuser sind zumeist von Holz. 
Bern, 2. März. Die bekannte Spitzel- 
Affaire wird im Gerichtssaalc ein Nachspiel haben. 
Ein Zürcher Blatt hat nämlich den Polizeihaupt 
mann Fischer beschuldigt, daß derselbe ans den 
von ihm geführten Untersuchungsakten gegen die 
Anarchisten eine Anzahl von Aktenstücken zurückge 
zogen und den Titel derselben im Verzeichniß auS- 
radirt hätte. Polizeihauptmann Fischer erläßt in 
Folge dessen eine Erklärung, daß er gegen jenes 
Blatts eine Verleumdungsklage anstrengen werde. 
Zugleich konstatirt er, daß die Untersuchung gegen 
die Anarchisten fortdauere und daß die beiden Ab 
geordneten Bebel und Singer im deutschen Reichs 
tage die Wahrheit gesprochen haben. 
Berlin, 3. März. (H. N.) Im Reichstage wird 
vom Abg. Kulemann, untersttitzt von der natio 
nalliberalen Partei, ein Antrag eingebracht, die ver 
bündeten Regierungen zu ersuchen, ein Gesetz vor 
zulegen, durch welches eine durchgreifende Er- 
21) Der lateinische Wauer. 
Erzählung von Hieronymus Lori». 
Der Nebel war zerflossen, eine beglückende Wahr 
heit brach sonnenklar hervor. Die ganze Seele von 
Freude durchströnit, vermochte Isidora kaum einen 
Äubelschrei zurückzuhalten. Er liebte sic, und die 
entsetzliche Kälte und Frcrndheit seines Wesens war 
nichts, als die Bitterkeit, der Grinun einer zun: 
Schweigen sich verurtheilenden Eifersucht. Ein Wort 
bon ihr und das chimärische Ungeheuer dieser Eifer- 
şucht war in nichts zerstoben. Nein, ein Wort 
genügte nicht, sie mußte Alleö sagen können, Alles, 
was in ihr vorangegangen war seit der ersten Be 
gegnung mit den: Grafen bis zu diesem Augenblick. 
Der Wagen rollte schon dem Hanse zu, jetzt war 
chcht die Zeit, nicht der Ort, aber die Sonne sollte 
ņecht noch einmal untergehen, ohne die Wahrheit 
gu den Tag gebracht zu haben. Um nur einen 
Ausdruck für ihre freudige Erregung zu gewinnen, 
sehnte Isidora ihr Haupt sanft an die Schulter 
shses Mannes. Er zuckte zusammen, im nächsten 
Momente schon erklärte er sich das Unerwartete als 
e>ue Folge ihrer Ermüdung; eine Minute noch, 
^std er spiegelte sich die Jllnsion einer inneren An 
näherung vor, und bei dieser Illusion standen dem 
starken Manne Thränen in den Augen. 
, Der Oberknecht Kaltschlag harrte ungeduldig 
!e:nes Herrn und trat mit demselben zur Seite, 
sobald er aus den: Wagen gesprungen war. Beide 
Erschlossen sich hieranf für mehrere Stunden im 
^chreibgemach Melchior's. Isidora fand auf ihrem 
Arsche einen während des Tages angelangten Brief. 
s,r war aus Paris und trug die Handschrift der 
Komtesse Isidora. Diese hatte ihre Freundin noch 
nicht beglückwünscht, weder zur Verlobung, noch zur 
Ehewathung, obgleich die Comtesse schon vor drei 
Monaten von der neuen Schicksalswendung in 
Kenntniß gesetzt worden war. Nach ihrer Art und 
Wnse war die Comtesse dadurch nicht gehindert, den 
vor wenigen Tagen geschriebenen Brief mit der 
Versicherung zu beginnen, sie beeile sich, zu der 
soeben in Erfahrung gebrachten Verlobung zu gra- 
tuliren, und wäre noch besonders dadurch erfreut, 
daß sie soeben auch die einen Monat später voll 
zogene Vermählung in Erfahrung gebracht habe. 
„Seit Du Braut warst", hieß es weiter, „hab 
ich Dir jeden Tag in Gedanken einen großmäch- 
tigen Brief geschrieben, und seit Du Frau bist, hab 
ich ihn jeden Abend fortgesetzt. Du weißt, liebe, 
ehrwürdige Matrone — ich muß Dich's doch büßen 
lassen, daß Du mir vorgeheirathet hast —, mich 
ergreift nichts leicht, ich aber ergreife ebenso schwer 
die Feder. Jetzt aber giebt es kein Halten mehr, 
denn ich habe soeben den jungen Grafen Sigismund 
Oldfred vom rechten Thurm der Notre-Damc- 
Kirche auf das Pflaster herabgestürzt. Da liegt er 
und ist spurlos vernichtet. Du wirst also nicht 
glauben, daß ich mit einen: spurlos vernichteten 
Manne zum Altar treten werde. Glaube kein 
Wort mehr von Allem, was ich Dir aus Ungarn 
geschrieben habe. Denk Dir, der Baron Franz 
Handeg ist auf die Pußta gekonimen. Er hat n:it 
Onkel Kertmènyi Geschäfte gehabt. Der Franz 
steckt bis über die Ohren in der Finanz. Da 
sollte kein Platz sein, sich bis über die Ohren zu 
verlieben. Ich habe wohl gemerkt, daß ich das 
Wunder zu Stande gebracht, aber ich habe mir 
nichts merken lassen. Wir sind bald darauf nach 
Paris gereist, nachdem wir den Onkel und den Franz 
unter einem Stoß Rechnungen zurückgelassen. Wie 
ich vor dem Hotel Mama's in Paris aus dem 
Wagen steige, ist mir einer behüflich. Wer? der 
Franz. Er gehört seitdem zur Familie, und wie 
wir zusanimcn heute die Notre-Dame-Kirche be 
schauen — der Papa war auch dabei — erzählt 
der Franz gerad heraus, sein theurer Freund, der 
Graf Sigismund Oldfred, mit dem er ein Herz 
und eine Seele, wäre der größte Schuft dieser Erde. 
Er ziehe sich überall zurück, wo er spüre, daß kein 
Geld zu fischen sei. Papa hat zustimmend genickt. 
Der Oldfred soll sogar, wie Franz sagt, eine 
Sattlermeisterstochter — an: Ende bist Du's, 
mein Schatz — haben heirathen wollen und hat 
sich im Augenblick zurückgezogen, als ihm der Franz 
bewies, daß Papa Sattler zwar die Pferde satteln 
kaun, aber selbst nicht gut beschlagen ist." 
Isidora las den Brief vorläufig nicht zu Ende; 
sie war nicht entrüstet, aber angewidert. Einen 
Augenblick konnte ich glauben, diesen Menschen zu 
lieben, dachte sie — mir graut; aber die Freundin 
hat recht, er ist auch für mich „spurlos ver 
schwunden." 
Es giebt Momente, in denen man ein duftendes 
Bougnet in der Seele zu tragen wähnt. Es kann 
eine Erinnerung oder eine Hoffnung, eine That 
oder auch nur ein Vorsatz sein -— immer kehrt man 
von anderen Dingen mit Verlangen nach dem Duft 
dieses einzigen Gedankens zurück. So schwelgte 
Jsidora's Gemüth in dem Entschluß, zu welchen: 
ihre Einbildungskraft immer wiederkehrte, am nächsten 
Morgen eine befriedigende Erklärung n:it Melchior 
herbeizuführen. Die Vorstellung, was sie sagen 
wollte, und wie er es aufnehmen würde, hielt sie 
den größten Theil der Nacht wach. Schon vernahm 
sie allerlei Geräusch, das den anbrechenden Tag 
verkündete, obgleich es der Jahreszeit entsprechend 
noch völlig dunkel war. Bitt einen: Lächeln der 
Befriedigung schlummerte sie ein, um bald darauf 
durch ein seltsames Getöse geweckt zu werden. 
Schwere Tritte schallten und das Klirren von 
Waffen wurde vernehmbar. Isidora klingelte, 
aber man schien dafür im Hause kein Ohr mehr zu 
haben. Sie warf sich in ihr Biorgengewand und 
öffnete ihre Thür. Auf dem Corridor begegnete 
ihr zuerst der Oberknecht Kaltschlag, welcher ' ihre 
Fragen nicht beantwortete und sie am Weitcrschreiten 
verhindern wollte. Sic entschlüpfte ihn: und eilte 
wie gejagt den Gang hinauf und wieder zurück, 
dem Lärm nachgehend, bis sie ihn am deutlichsten 
aus dem Gemach hörte, dessen zweite Thür in ihr 
eigenes Stübchen führte, aber bisher immer ver 
schlossen war. Es war das Schlafzimmer ihres 
Mannes. Er stand aufrecht und völfi^ angekleidet 
an einem Schrank neben einem Mannen Civil, 
welcher ein Gerichtsbeamter sein mußte, denn drei 
Polizeisoldaten, deren Gewehre zuweilen ans den 
Boden stießen, leisteten ihm Assistenz. Hinter dieser 
Gruppe standen einige Knechte und Mägde des 
Hauses. 
Man ließ der todtblassen Isidora den Weg zu 
ihrem Manne frei, der eben mit dem Einpacken 
der Dinge, die er in seinen Taschen mitnehmen 
wollte, fertig zu sein schien. 
„Was ist geschehen? was hast Du gethan, Mel 
chior?" rief sie, in Schluchzen ansbrechend. 
Er wendete sich zu ihr und suchte nur ihr selbst 
vernehmbar zu bleiben, als er sagte: 
„Man wird inich eines Verbrechens anklagen 
Jetzt kannst Du Dich von mir befreien und den 
Grafen aufsuchen. Lebe wohl auf ewig." 
Man ließ ihr nicht Zeit zu einer Antwort. 
£yeV' Beamte und die Soldaten nahmen Melchior 
:n :hre Mitte und bestiegen mit ihm die unten 
harrende Landkntsche. 
(Fortsetzung folgt). 
Kleine Gedankensplitter. 
Und endlich bin ich heimgegangen 
Zu alter Stell' und alter Lieb', 
Und von mir ab fiel das Verlangen, 
Das mich einst in die Ferne trieb. 
Die Welt, die Fremde, lohnt mit Kränkung, 
Was sich, umwerbend, ihr gesellt; 
Das 5iaus, die Hcimath, d,e Beschränkung, 
Die sind das Glück und sind die Welt. 
Th. Fontane. 
Nur zu Einem frisch entschlossen, 
Sei es Dulden, That, Genuß: 
Aus dem Zweifel, träg, verdrossen, 
Stets beglückend hebt dich der Entschluß. 
Kinkel. 
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