VI. Staatsarzneikunde,
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heitsliebe zeugten zu sehr gegen ihn, und es‘verdiene Tadel, dass er
nicht einen erfahrenen Arzt oder Geburtshelfer zu Rathe gezogen.
Demnach müssten sie urtheilen: dass der Chirurg O. im vorliegen-
den Falle den Grund- und Lehrsätzen der Wissenschaft, Kunst und
Moral nicht gemäss gehandelt, wenn gleich die Entbindung wegen
mehrerer obwaltenden Umstände eine schwierige gewesen 8e). —
Unterm 1%, Mai wurden von Königl. Justiz-Canzlei die gesamme-
ten. Untersuchungsacten dem Dr. Vezın zugestellt und demsel-
ben’ ein Gutachten abgefordert, welches dieser auch unterm 4,
Juni einreichte, demzufolge er ganz entgegengesetzter Meinung
als die beiden vor ihm begutachtenden Aerzte und Physici war,
Er stellt nämlich 1) den Fall so, wie er am 19. Decbr bei
Ankunft des Geburtshelfers vorlag, aus den actenmässigen Aus-
sagen, dar und giebt an, welches Einschreiten von Seiten ‚des-
selben nach dem jetzigen Stande der Wissenschaft angezeigt ge=
wesen, Er beweist nach den Lehren der berühmtesten Geburts-
helfer, dass das Becken, nach den im Obductionsprotokolle an-
gegebenen Maassen, bedeutend verengert und missgestaltet und
nicht, wie der Phys. C. unbegreiflicher Weise erklärte, -natur-
gemäss gewesen sey, eben so wenig aber die bedeutende Ver-
kürzung der Conjugata durch ‚die hinreichend grossen übrigen
Durchmesser unschädlich gemacht werden konnte. Er rügt zu-
gleich, dass die Obducenten unterlassen, die mittlere Becken-
öffnung ‚oder die Beckenhöhle; so wie die Höhe des Beckens zu
messen, was doch sehr wichtig gewesen; indem ‚bei auch hier
Statt findender Verkürzung des geraden Durchmessers die Ent-
bindung doppelt schwierig war. Zu dieser durch Enge des Be-
ckens verursachten Schwierigkeit der Geburt seyen hier noch 5
Tage dauernde, schmerzhafte und unkräftige Wehen, früher Ab-
fluss des ‚Fruchtwassers, unregelmässige Kindeslage und der Ge-
brauch von einem Pferdearzt verordneter erhitzender Arzneien;
gekommen, um den Fall noch verwickelter zu machen, Die an-
gezeigten Hülfeleistungen waren für diesen Fall die Zange und,
wenn diese, wie hier zu erwarten war, ohne Erfolg blieb, Wen-
dung und Extraction des Kindes, die jedoch hier ebenfalls schwer
auszuführen waren, wie sie denn unter allen Umständen bedenk-
liche und schwierige Operationen sind, 2) Untersucht V., ob der
Angeschuldigte den Fall richtig erkannt und die richtigen Indi-
cationen gestellt? Er bejaht dies; indem O0, wenn gleich seing
Aussagen mit denen der Hebamme nicht ganz übereinstimmen,
doch offenbar das Vorliegen des Armes und die Enge des Be-
ckens als die wesentlichsten Punkte erkannte und die richtigen
Indicationen stellte, Wendung und Zange. 3) Hat der Ange-
schuldigte diesem gemäss gehandelt und die erforderliche Ma-
nual- und Instrumentalhülfe mit der nöthigen Vorsicht für Mut-
ter und Kid angewendet? — Auch diese Frage wird bejahend
beantwortet ; insofern O. die Kreissende auf ein Strohlager brachte,