Full text: (6. Band = 1833, No 17-No 24)

zu“ 
VL. Staatsarzneikunde, 
VI. STAATSARZNEIKUNDE. 
256. Gutachten über den körperlichen und Ge- 
müths-Zustand des Boten O.; von dem geheimen Hofrathe 
und Ordensritter Dr. J. H. G. ScHLEGEL in Meiningen. — Nach- 
dem der vormalige Schuhmacher O,, der sich jetzt als Bote zu- 
gleich mit dem Einsammeln der Zinsen auf dem Lande für eine 
Casse beschäftigt, auf eine Tags zuvor vom Verf. erhaltene Ein- 
ladung, zu ihm zu kommen, dies in rohen Aeusserungen ver- 
weigert , begab sich dieser am 18. Juni 1823 Vormittags 10 Uhr 
und desselben Nachmittags zu ihm, um seinen Gemüthszustand 
zu erforschen; seine Frau suchte das Benehmen ihres Mannes 
zu entschuldigen, indem sie gegen den Verf, äusserte, es sey 
mit ihm seit geraumer” Zeit im Kopfe nicht richtig. In demsel- 
ben Augenblicke trat O0. nur mit Hemd und Hosen bekleidet mit 
zornigem Blicke und an allen Gliedern heftig zitternd aus seiner 
Schlafkammer, wo er zu Bett gelegen und geschwitzt hatte, in 
die Wohnstube, angeblich in der Absicht, einen eben da gewe- 
genen Juden zur Thür hinauszuwerfen. Der Verf. liess sich mit 
ihm in ein Gespräch über Gegenstände des gewöhnlichen .Le- 
bens ein, wöbei er sich ganz vernünftig äusserte, doch unauf- 
hörlich zitterte, was seinem eigenen Geständnisse nach, jeden Mor- 
gen so lange anhalte, bis er Bränntwein getrunken habe, an den er 
von früher Jugend an, statt des Caffees, gewöhnt sey, daher er auch 
seit 3 Jahren täglich an Kolik und wässerigem Erbrechen und noch 
viel länger’an Kreuzschmerzen , Beklemmung und Angst leidet, was 
er Hämorrhoiden zuschreibt, und sich übrigens für ganz gesund 
hält. Diese Leiden haben sich auch noch dadurch vermehrt, 
dass er sich’s zu Gemüthe zieht, vor der Schlacht bei Lützen, 
im Mai 1813, um Kriegsunglück von seiner Heimath abzuwen- 
den, sich als Kundschafter hergegeben und falsche Nachrichten, 
die er als wahr beschworen; verbreitet, und dadurch, wie er 
glaubt, den Tod von Tausenden auf sein Gewissen geladen zu 
haben. Ausser dem vermeintlichen Besitze von Wunderkräften — 
indem er eben so wichtige als untrügliche Curen durch Sympa- 
thie bewerkstelligen zu können versichert — einem Wahnsinn 
in Begriffen, chimärischem Wahnsinn, nahm der Verf. 
durchaus keine Spur von Geisteszerrüttung an ihm wahr. Bei 
zeinem Geschäfte auf dem Lande soll er sich allerdings biswei- 
Jen etwas sonderbar benehmen, sich bald zu lange, bald zu kurz 
bei den Leuten aufhalten, manche noch in später Nacht aus dem 
Bette treiben, um sie zu mahnen, sie übrigens aber nicht hart 
behandeln, sondern sogar nicht selten das bei Begüterten ihm 
vorgesetzte Brot u. a. m. in den Häusern der Armen vertheilt 
haben. Er ist ziemlich lang und mager, 51 Jahre alt, sein gan- 
zes Wesen verräth einen an Geist und Körper aufgeregten Zu- 
stand, seine Sprache.ist heftig und schnell wie sein Ideengang,
	        
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