il. Pathologie, Therapie und medicinische Klinik. 327
die Krankheit zu haben, von der sie zufällig reden hörte, und
war zu keiner Arbeit zu bewegen. Sie meinte, sie wisse nicht,
wie ihr sey; ihr Kopf komme ihr zu weit vor; sie scheine sich
selbst eine ganz andere Person. Wollte sie aus einer Stube in die
andere gehen, so machte sie in der Regel die Thür erst meh-
rere Male auf und zu, und stand dann einige Minuten still, he-
vor sie weiter ging. Sie griff mehrere Male zu, wenn sie etwas
langen wollte, sann eine Weile nach und nahm endlich den Ge-
genstand. Beim Stricken zog sie oft die Nadeln aus und ver-
fitzte das Garn, u. s. w. In einer Pensions - Heilanstalt aufge-
nommen, änderte sich ihr Wesen so, dass von Unfreiheit des
Geistes nichts zu bemerken war. In ihrem Thun und Treiben
war sie langsam, nachlässig; sie kleidete sich unordentlich, durch-
nässte oft ihre Kleider und benahm sich später wieder sonderbar
und verkehrt. Sie wurde mit aller Strenge zur Ordnung und
'Thätigkeit angehalten; sie musste jeden Morgen, wenn sie auf
Frühstück Anspruch machen wollte, ihr Zimmer vollständig rei-
nigen und sich selbst ordentlich und reinlich halten; sie musste
sich in der Wirthschaft beschäftigen und an andern mechanischen
Arbeiten Theil nehmen. Sie fügte sich nicht ohne Widerstre-
ben und gab oft zu Tadel und kleinen Bestrafungen Anlass. Letz-
tere bestanden in Entziehungen ihr angenehmer Zerstreuungen,
in Uebergiessungsbädern und Douche; am lästigsten war ihr
strenge Isolirung von allen Verwandten, was bei der Behandlung
weislich benutzt wurde. Bis zum Juli trat keine wesentliche Ver-
änderung ein; als sie aber einem noch strengern Verfahren un-
terworfen wurde und selbst an den Vergnügungen ihrer Umge-
bung keinen Theil nehmen durfte: wurde sie aufmerksamer auf
sich selbst. und nahm sich so zusammen, dass sie oft in mehre-
ren Tagen sich keinen Tadel zuzog. Mit ihrer vorschreitenden
Besserung wurde jene Strenge gemildert, und den 18, Mai wurde
die Kranke als vollkommen geheilt entlassen. Dieser Fall gehört
zu den seltenen Gemüthskrankheiten, welche ihr Entstehen ei-
nem vorwaltend psychischen Einflusse verdanken. Hier war keine
erbliche Anlage, keine mit den vorhandenen Anomalieen des Gei-
stes im Causalnexus stehende, Abuormität des Körpers im Spiele,
sondern eine von Kindheit an zu nachgiebige Erziehung schien
allein Veranlassung jenes Gemüthsleidens zu seyn. — Eine un-
verheirathete, kenntnissreiche und gebildete Dame von 41 Jah-
ren war in einen verheiratheten Mann verliebt u. hatte durch Hint-
ansetzung aller Decenz solche Auftritte herbeigeführt, die ihre
Entfernung und Versetzung in eine Irrenheilanstalt (von wo aus
sie jetzt, den 10. Jan. 1831, überliefert wurde) nothwendig mach-
ten. Diese Liebe, eine recht sinnlich begehrende, war der fixe
Punkt, um den sich alles drehte, so dass die Unglückliche die
Weiblichkeit im höchsten Grade verletzte, Alles mit den unzar-
testen Anspielungen und ohne Rücksicht bloss auf ihr Liebesver-
hältniss bezog und die gewöhnlichen äussern Merkmale von Nym-