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Psychiatrie.
Bemühungen ganz illusorisch seyn würden. Ihm steht nichts
im Wege, den widersetzlichen Willen derselben zu beugen und
sie seinen Gesetzen unterzuordnen , also Gehorsam an die Stelle
schrankenloser Leidenschaft zu setzen. Wenn hierüber nie ein
Zweifel war, sobald es Aufrechthaltung der Hausordnung einer
Irrenanstalt galt, warum hat man diese Disciplin der Kranken nur auf
die rohe Aussenseite ihres widerspenstigen Charakters beschränkt,
ohne die innersten und ursprünglichen Regungen ihres Gemüthes
an gleiche Zucht und Ordnung zu binden? Mögen PıneL und seine
Anhänger immer sagen, dass der Arzt sich das Vertrauen der
Kranken nicht durch Strenge und gebieterisches Betragen ver-
scheuchen dürfe, dass Widerspruch die Kranken in Heftigkeit
versetze, was neue Krankheitszufälle hervorbringen würde, und
dass der Genesende durch peinliche Erinnerungen an frühere
Verirrungen zu tief erschüttert und so Rückfällen Preis gegeben
werden könnte. Diese Sätze sind ein Ausdruck der modernen
Denkweise, die den Ernst aus dem Geschäfte der sittlichen Er-
ziehung verbannt und es völlig übersicht, dass alle Selbstbeherr-
schung nur aus Gehorsam gegen das Gesetz entspringt. Wich-
tiger als die Aufgabe, das Vertrauen des Geisteskranken zu ge-
winnen, ist die Regel, sich ihren Gehorsam zu verschaffen, ihnen
den Widerspruch abzugewöhnen, mit dem sie heilsame Ermah-
nungen von der Hand weisen, und sie durch Erkenntniss ihres
verwirrten Zustandes zur Demuth zu stimmen. Dies Ziel erreicht
man jedoch nur mit mühevoller Beharrlichkeit. Das Bewusstseyn
der Pflicht geht erst verloren, wenn die Seelenkräfte gänzlich
zerrüttet sind. Bis dahin ist es nur durch den leidensehaftlichen
Aufruhr übertäubt: daher dämpfe man diesen, um jenes wecken
zu können! Die Wahnsinnigen kennen ihre Fehler recht gut, sie
können dieselben nur nicht aus eigenen Kräften unterdrücken.
[st später ihr Gemüth zum Gehorsam und zur Bescheidenheit
disciplinirt worden, so halte man ihnen ihr früheres Leben, das
Gewebe ihrer "Thorheiten, den Ausgang ihrer Leidenschaften
vor und setze sie durch geeignete Belehrung in den Stand, dar-
über richtig zu urtheilen. Man lasse Ausflüchte der verletzten
Eigenliebe nicht gelten, rüge Entstellungen der Wahrheit, kläre
verworrene Ansichten auf und berichtige falsche Begriffe. Man
wäge Lob, Tadel, Belohnung, Strafe, Hoffnung, Furcht, Milde
und Strenge nach Verdienst ab, dass sie in Allem das rechte
Maass erkennen lernen. — Um nun zu zeigen, wie I. die Auf-
gabe, Geisteskranke zur Selbsterkenntniss zu bringen, zu lösen
sich bemüht, theilt derseibe die Autobiographieen zweier aus
der Irrenabtheilung der Charite als geheilt entlassenen jungen
Studirenden mit, von denen der eine aus Schwärmerei und
Fanatismus in Tobsucht verfiel, der andere, ein Jude, durch
Streitigkeiten mit Vater, Bruder und Bekannten, wodurch der
Gedanke eines gegen ihn eingeleiteten Complots entstand, An-
fälle von Raserei und Tobsucht bekam. Wörtlich mitgetheilt