IV. Staatsarzneikunde,
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schen - Krankheitem geschieht in den meisten Fällen durch die
Natur selbst; die.der moralischen ’aber kommt nie von selbst zu
Stande. Der eigene kräftige, durch moralische Einwirkung her-
vorzurufende Entschluss des damit Behaftelen ist das einzige
Heilmittel. 12) Psychische Gesundheit kehrt mehr oder minder
plötzlich zurück ; die moralische Krankheit ist nur allmählich aus-
zurotten. IV. Die Vermengung von psychischer und moralischer
Krankheit, so wie manche andere Verwirrung in der Lehre von
der Zurechnungsfähigkeit, scheint dadurch herbeigeführt. dass
man die. Unfreiheit als das wesentlichste und charakteristi-
sche Merkmal psychischer Krankheiten betrachtet hat. Wie der
Begriff von Unifreiheit bis jetzt‘ in der Lehre von der Zurech-
nungsfähigkeit angewand; worden, ist er so schwankend und un-
bestimmt, dass bei der Annahme: Unfreiheit hebt die Zurech-
nungsfähigkeit auf, jeder Verbrecher von der Zurech-
nungsfähigkeit losgesprochen werden könnte. Die
Freiheit (von. bösen Gelüsten, Leidenschaften. u. 8. w.), welche
Vernuuft und Gewissen uns als. das höchste Gut erkennen Jehrt,
wird. dem Menschen. nicht angeboren, sondern sell errungen
werden in stetem und schwerem. Kampfe mit der Sinnlichkeit;
allein wie der bessere Mensch ‚auch ringe und strebe mit aller
Kraft seines Geistes, vollkommen, erreicht er sie nic auf Erden,
Wie kann man. nun. aber deu Begriff von Freiheit nur als abso-
lute oder moralische Freiheit auffassen, jeden Menschen: für ei-
nen mehr oder minder Unfreien halten und dennoch die Unfrei-
heit als das unterscheidende Merkmal der psychischen Krankheit
ansehen? Das Wort Freiheit muss in ganz verschiedener Be-
deutung gebraucht werden. Es giebt eine vollkommene,. ab-
solute, vernünftige und moralische Freiheit, das höchste,
aber unerreichbare Ziel menschlichen Strehens. Es giebt eine
allgemeine menschliche Freiheit, deren jeder Mensch theil-
haftig ist. Diese, die menschliche Willkühr, nicht. aber
jene höhere, vernünftige Freiheit, ist es, auf deren Vor-
handenseyn sich die Zurechnungsfähigkeit gründet. Der Mensch
kann sie nur in krankhaften Zuständen verlieren. Wo. er sie
aber verloren hat, da findet keine Zurechnungsfähigkeit Statt,
sey es denn, er hätte jenes Gut mit eigenem Wissen und Wil-
len hingegeben (wie es z B, in der Trunksucht der Fall seyn
kaun). Kommt der Mensch um seine Freiheit durch psychische
Kraukheit; so befindet er sich in dem Zustande psychischer
Unfreiheit, die ihn gegen Strafe schüizt. Verliert er sie
durch Immoralität;. so ist er im Zustaude moralischer Un-
freiheit, die, fussend auf der Wahrheit: dass kein Mensch
lasterhaft wird ohne alles eigene Verschulden, ihn
nicht von Bestrafung freispricht. Beide Unfreiheiten «ind sich
entgegengesetzt; sie verhalten sich wie psychische und morali-
sche Krankheit, und ihre Vermengung und Verwechselung ist
von den bedenklichsten Folgen für die Lehre von der Zurech-