VIL. Staatsarzneikunde.
2. Einige Bemerkungen zu der Abhandlung
des Hrn. Geheimraths und Prof. Dr. MiıTTEerRMAIER in
Heidelberg: „Ueber die zweckmässigste Art der
gerichtlichen Fragestellung an Aerzte bei Erfor-
schung des geistigen Zustandes der Angeklagten,
und über das Verhältniss des Gerichts und der Me-
dicinalbehörde in Bezug auf ärztliche Gutachten
(Hırzıc’s Zeitschrift für die ‚Criminalrechtspflege
Bd. IH. S. 235—261.) Vom Physicus Dr. Steeemann in
Oberkirch. — Vorliegende Bemerkungen wurden vorzüglich
dadurch veranlasst, dass MirTEeRmAIER in seiner Abhandlung
für die gerichtliche Medicin wichtige Sätze und Folgerungen
auf eine Lehre gründet, über welche sowohl zwischen den
Rechtsgelehrten als zwischen den Aerzten noch Streit obwaltet,
nämlich auf Pinel’s manie sans delire (Tollheit ohne Verstan-
deszerrüttung; Rem, HorrsAuer, ConraDr): Der Verf. folgt
Schritt vor Schritt MiTTERMAIER’S- Abhandlung, bestätigt, er-
gzänzt, widerlegt, knüpft allgemeine Bemerkungen an über den
Standpunkt, von welchem der Arzt bei Begutachtung zweifel-
hafter psychischer Zustände auszugehen habe, und über das
Verhältniss der Medicinalbehörden zum Gericht in Bezug auf
gerichtliche Gutachten. Ref. beschränkt sich darauf, einige
der wichtigsten Folgerungen auszuziehen: Der Arzt hat sich,
wenn es auf Beurtheilung des Gemüthszustandes eines Inculpa-
ten ankommt, ohne auf die rechtlichen Folgen der Zurechnung
einzugehen, folgende Fragen zu stellen: 1) War das Be-
wusstseyn und die Selbstbestimmung. des Inculpaten im Augen-
blicke der gesetzwidrigen Handlung - aufgehoben? 2) Welches
sind die Momente, welche die Aufhebung des Selbstbewusstseyns
und der Freiheit in dem gegebenen Falle bedingen, und wie kann
solche bezeichnet werden? — Kine Manie bei bestehendem
Selbstbewusstseyn und ungestörtem Vernunfigebrauche (Pıne.,
Rei, Conrapı, HorrFsAveR) ist nicht denkbar, denn Bewusstseyn
der Handlung heisst im rechtlichen Sinne die Vorstellung des Ge-
setzes und die Beurtheilung der Handlung nach dem Gesetze und
nach ihren Folgen; begeht aber ein Mensch eine gesetzwidrige
Handlung in Folge eines lange gehegten irrigen Wahnes, also in
Folge einer fixen Idee (partiellen Wahnsinnes) ‚‘ so ist es eben
diese fixe Idee, welche, indem sie ihn zur Handhang antreibt und
sie ihn sogar planmässig vollziehen lässt, ihm zugleich das Be-
wusstseyn der Handhıng im rechtlichen Sinne nimmt, und somit
anch die freie Selbstbestimmung aufhebt. Daher‘ gehören fast
alle Fälle, die man für die Existenz der manie sans dclire an-
führt, entweder zu dem plötzlich ausbrechenden Paroxysmus einer
aussetzenden Manie, oder zu den Fällen des partiellen Wahnsinns
oder amentia occulta nach PrLaTNER, oder zu jenen, wo durch
ibermässige Affecte, bei gleichzeitigem Vorhandenseyn von
Krankheiten, oder bei einer krankhaften Reizbarkeit eine nur kurz
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