264 I. Pathologie, Therapie und medicinische Klinik.
der Choleraluft eingetaucht befinden, dass das Miasma Jeden
umgiebt, dass Jeder, der die Krankheit herbeiruft, krank wer-
den kann, und dass Angst, Furcht und Trauer ganze Familien
gefährden. — In Moskau that man nichts, dass die Cholera sich
von da aus nicht weiter verbreite, und doch erlosch sie da-
selbst. — Wo endlich in stark inficirten Gegenden die Aerzte
ihr Urtheil über Contagiosität und Nichtcontagiosität abgeben
sollten, sprach immer die Mehrzahl für letztere. Nur unter
Aerzten, welche die Cholera noch nicht in der Natur beobach“
tet hatten, erklärten sich die meisten für Contagiosität. — Was
den zweiten Beweis für die Ansteckung betrifft , dass gesunde
Orte krank wurden, wenn ein Cholerakranker dahin kam, oder
gar dort starb u. s. w., so kann man eigentlich wohl nicht das
Gleichzeitige der Ankunft eines Fremden an einem Orte und
das Erkranken dieses Ortes, oder gar des Fremden selbst, als
evidenten Beweis ansehen, dass er die Krankheit hingebracht
habe; und wie will man. bei dieser Annahme das Erkranken
der Orte erklären, in. die kein solcher Fremder kam? Pflanzte
sie sich übrigens durch Menschen fort, so ‚würde sie weit frü-
her zu uns gekommen seyn. Täglich gelangten Reisende von
Wien aus in nahe und ferne Gegenden, ohne dieselben anzu-
stecken. — Hinsichtlich des dritten und vierten Beweises,
dass durch Absperrungen sich mehrere Orte gesund erhalten
hätten, darf man nicht überschen, dass eine solche freiwillig ge-
schehende Massregel eine kräftige Mahnung ist, sich vor Thor-
heiten und Fehlern des Verhaltens zu hüten, und dass der mo-
ralische Eindruck einer solchen Massregel den medicinisch-poli-
zeilichen wohl weit überwiegt. — Nächstdem haben sich viele
Orte ganz fruchtlos abgesperrt, andere aber, die dieser eigen-
sinnigen Krankheit durchans kein Hinderniss in den Weg leg-
ten, haben von derselben nicht das Geringste gelitten. Wochen-
lang hält sie sich in einer Landstrecke,, während Menschen und
Waaren frei hin- und herziehen, überspringt später nicht sel-
ten bedeutende Räume und fällt dort ein, wo man sie am we-
nigsien erwartete. Mehrmals ist sie in Stadtgefängnissen aus-
gebrochen und hat die Städte übrigens verschont. Sie verschwin-
det, wie sie kam, ohne dass der Mensch darauf einen Einfluss
haben kann, begnügt sich meist mit dem hundertsten, höchstens
mit dem zehnten Kopfe, und befällt auch solche, die keiner
Ansteckung sich ausgesetzt und sich ganz sorgfältig vor ihr
gehütet haben. Den fünften Beweis anlangend , dass Cordons
die Cholera aufgehalten haben, so vergisst man. gemeiniglich,
dass dieselben tief im gesunden Lande gezogen wurden. Sie
halten die Krankheit so lange ab, als diese nöthig hat, das ab-
geschlossene, gesunde Land zu durchschreiten. Ist sie am Cor-
don angelangt, so schreitet sie, wenn es ihr beliebt, leicht über
denselben weg, überspringt ihn wohl auch. Dem ernstlichen
Fortschreiten der Seuche ist bisher noch jeder Cordon erlegen,