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194 Anatomie und Physiologie.
Erquickung und labende Stärkung. Wenn der Mensch da
her tief athmct, oder seufzt oder gähnt, so empfindet er das
Bedürfnis der Ruhe, Erleichterung, Erholung und Belebung
und diess Bedürfnis befriedigt er durch jene Brustbewegim-
geu und er fühlt diess BediirfniSs dann, wenn er in einem r
Zustande von Iunervationsmangel ist. In diesem Zustande liegt
die Endursache von allen Erscheinungen und das Gähnen ist
Instinctsbewegung, die aus diesem Zustande entspringt und des
sen Abhülfe bezweckt. Kräftige, in jedem Augenblicke ihre Kör
perstärke fühlende Menschen gähnen fast nie, und Menschen
mit stets reger und bewusster Geistesthätigkeit nimmer. Beide
Arten von Menschen waren aber von je seltep. Die meisten
Menschen sind vielmehr so beschaffen, dass sie immer geneigt
sind, tief zu athmen und zu gähnen. Diess beruht wohl nicht
auf Innervationsmangel, sondern gewöhnlich nur auf Nachlass
der Innervation, d. h. auf Bequemlichkeitsneigung. Weil aber
die Menschen stets in nachlässiger Innervation begriffen sind, stets
sich jede Thätigkeit bequem machen und erleichtern möchten,
gern den Mund öffnen, den Kiefer hängen lassen und immer
einmal wieder tiefer Atliein ziehen wollen, so sind sie in der 1»
vollkommensten Disposition zu gähnen, immer bereit, sich die
sen höchsten Grad der Genussbewegung zu gewähren und sie
gähnen, sobald irgend wie die Erregung nachlässt, die mit
dem Geiste auch die Körperkräfte in vermehrter Thätigkeit
erhält. Dass bei dem Nachgähnenden die Disposition zu den
gähnenden Bewegungen schon vorhanden sei, bemerkt auch
Müller. Wem diese Disposition fehlt, der gähnt nimmer ei
nem Andern nach, ,wovon man sich in allen Gesellschaften
überzeugen kann. Bei dieser Disposition wird aber das Nach
gähnen durch Hören und Sehen des Gähnens nicht so veran
lasst, dass man sich das Gähnen vorstellt und dass diese Vor
stellung der Bewegung des Nervenprincips die Direction er-
theile, wie Müller meint, sondern es beruht diess auf fol
gendem Umstande. Sieht oder hört man nämlich in der Dis
position zum Gähnen einen Andern gähnen, so entsteht zwar ^
in uns das Bewusstsein der gähnenden Bewegung, doch das
selbe bleibt ganz untergeordnet. An die Stelle der Vorstel
lungen, die den zum Gähnen disponirten Menschen noch auf
recht erhielten, tritt vielmehr die Vorstellung von Zustande,
der dem Gähnen zum Grunde liegt und von der Wirkung, die
dasselbe erzeugt. Sieht man daher Andere gähnen und denkt
an nichts Anderes, was unser Bewusstsein ganz in Anspruch
nimmt, so entsteht in uns das Bewusstsein vom Zustande der
Innervationsschwäche, die den Andern zum Gähnen veranlasste
und wenn man selbst in diesem Innervationsnachlass schon be-