10 Pathologie, Therapie und medicinische Klinik.
Armen, die kein „Sich gehen lassen“ gestattet, dürften diese
Erscheinung erklären. Bemerkenswerth ist ferner, dass die
Krankheiten der Armen ■viel einfacher sind, weniger complicirt
verlaufen und das unleidige Nervenspiel dem Arzte in der Be
handlung nicht so hemmend entgegentritt. Auch findet man
hei ihnen wenig Hypochondrie und Hysterie, beide Kinder der
Phantasie, meist Symptome eines vollsaftigen Bauches; denn
die Phantasie der Armen verkümmert, weil sie das harte Le
hen nur zu sehr mit der Wirklichkeit, mit der Sorge um ihr
Dasein beschäftigt. — Ehe der Yerf. von den Mitteln zur Hei
lung der Krankheiten der Annen spricht, bemerkt er aus Er
fahrung, dass die erste Anzeige schon dadurch erfüllt ist, dass
der arme Kranke weiss, sein Arzt, um den er gebeten und um
dessen Herbeiholung er oft einem Menschen zahlen musste, sei
ein Mensch, der, aller Vorurtheile loss, nur zum Menschen
komme und den reinen Willen, zu helfen, mit sich bringe.
Hierdurch ist es dem Arzte viel leichter möglich, genaue und
wahre Relation des Krankheitszustandes zu erhalten; denn in
dieser vertrauungsvollen Hingebung des Kranken liegh eher seine
Natur gleichsam moralisch vor, als wenn er furchtsam dem Arzte,
wie einem hohen Herrn, der sich allenfalls ans Mitleid, oder
weil es seine Anstellung mit sich bringt, zu ihm herablässt,
seine Leiden offenbaren muss. Die Humanität ist und soll die
Basis sein, auf der die Handlungen des Arztes beruhen müssen;
die Basis der Humanität aber ist das Herz des Arztes, darin
auch unverkennbar in schweren Fällen das nur allein durch
dasselbe gültige Urtheil schon vorgebildet liegt, daher nur die
menschenfreundliche Praxis allein Aerzte erziehen wird; denn
der Arzt, der Gemiith hat, wird auch mehr erfahren können,
weil ihn die Kranken mehr suchen, als den kalten, abstracten,
wenn auch denkenden Heilkünstler. Die in jedem Menschen,
sei es auch der ärmste, verlassenste und körperlich hinfällig
ste, schlummernde geistige und moralische Kraft zu erwecken
und durch liebende Theilnahme mächtig anznfachen, bleibt eine
Hauptaufgabe des Armenarztes, und wer ihr nicht entspricht,
hat sein Werk nur halb gethan und dem schönsten, edelsten
Thcile der Kunst freiwillig entsagt. Nebst diesem moralischen
Einwirken des Armenarztes auf den Kranken muss man noch
weiter erwägen, ob der Arzt mit seinen wissenschaf tlichen Ver
ordnungen unter gegebenen Umständen helfen kann, oder ob
diess durchaus vermöge allzu grosser Noth unmöglich ist? Im
ersten Falle wird der menschenfreundliche Arzt freudig seine
Pflicht thun, im zweiten giebt es für den armen Kranken kei
nen andern Ausweg, als das Krankenhaus. Viele gehen wohl
gern in dasselbe, doch wie schwer ist diess da, wo die Kranken