VI. Staatsarzneikunde.
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stellte, erhielt er nährende Bäder und Rlystiere. War es der
hartnäckigste Trotz? war es Lebensüberdruss oder freiwillig
aufgelegte Busse zur Sühnung der Schuld? — In den letzten
Ta gen der dritten Woche wurde Inquisit zuweilen von den
heftigsten Krämpfen in den verschiedensten Formen befallen.
L'm die Natur derselben nuszumitteln, wurde er noch genauer
beobachtet und belauscht und siehe da, als er eben während
der Visite in dem furchtbarsten Krampfanfalle verlassen wor
den war und nun nach kurzer Zeit die Aerzte, die er schon
fern wähnte, auf den Zellen herbeischlichen, fanden sie ihn
ganz ruhig und wohlgemuth auf dem Lager aufgerichtet sitzen,
den Mund wie zum Pfeifen gebildet und das Gesicht zum
schadenfrohen satanischen Lächeln verzogen. Nun war des
Spieles ein Ende, auch gelangten bald die Criminalärzte zur
Ueberzeugung, dass die Tobsucht des Inquisiten reine Verstel
lung sei. Elle derselbe noch abgefiilirt wurde, trat der Verf.
die Leitung der Irrenanstalt an Dr. Rilke ab. Als er ein
Jahr später die Irrenanstalt besuchte und sich nach dem fernem
Schicksal des Inquisiten erkundigte, horte er Folgendes: Inqui
sit sei zu lebenslänglicher Verwahrung auf dem Spielberge
verurtheilt worden lind auf dem Wege dahin habe er, unter
Fluchen und Schelten, als er die Festung gesehen, mehrmals
sich geäussert, dass er so lange in der Rolle des Wahnsinni
gen sich Gewalt angetlian und so viele Leiden und Entbehrun
gen ertragen habe, um nur dem verw ünschten Spielberge zu
entgehen und dass doch noch seine Absicht vereitelt worden
sei. Näcli der ersten Nacht, die er dort zugebracht, habe man
ihn übrigens des Morgens erhängt gefunden. — Wirft man
auch nur einen flüchtigen Blick auf die Geschichte dieses Mei
sters in der Versleliungskunst, so drängt sich die Bemerkung
auf, wie planmässig derselbe seine Absicht durchführte; zuerst
genügte es, Richter und Aerzte durch tolles Geschwätz und
Handeln irre zu führen; als dies erreicht schien, kam der Ab-
scess unter der Achsel ganz erwünscht; durch fortwährend un
terhaltene Reizung glaubte er den Aufenthalt in der Anstalt
zu sichern, ohne nolliig zu haben, die mit mehr körperlicher
und geistiger Anstrengung und grossem Entbehrungen verknüpfte
Rolle des Wahnsinnigen zu spielen. Im Betrüge entlarvt setzte
er nun den Hebel der Furcht durch Entwickelung riesenhafter
Kräfte in Bewegung, um ruhige schonende Duldung in der
Anstalt und gute Verpflegung zu erhalten. Nach Entreissung
dieses Talismans musste zum Aeussersten gegriffen werden,
■Wenn es auch noch so grosse Anstrengungen und Opfer kostete,
fm die Meinung geltend zu machen, dass ihn ein fixer Wahn
beherrsche, galt es etwas Ungewöhnliches, der gesunden mensch
lichen Natur Widerstrebendes in die Erscheinung zu bringen:
es musste der natürliche Trieb nach Speise bekämpft werden.