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VI. Psychiatrie.
gern in ihr. So zeigt der Verpflegte weder in Worten, noch in
Handlungen etwas von Seelenstörung mehr, sondern freudiges
Vertrauen auf Gott, die Menschen und sich selbst, und neben
Ruhe und innerm Frieden nur Weichheit des Gemiiths und grosse
Empfänglichkeit für psychische Eindrücke, die Nachhall seiner
Krankheit, aber auch Wirkung seines unglücklichen Lebens ist.
— Die Diagnose des erzählten Falles ist leicht: die Symptome
der Krankheit, so wie Verlauf und Ursachen charakterisiren sie
deutlich als Melancholie. Ursachen findet man theils somati
sche, theils psychische. Zu ersteren gehören die vom Vater
ererbte Disposition zu Unterleibs- und Nervenübeln und conse-
cutiv zur Melancholie, die zur Entwickelung derselben günstigen
äusseren Schädlichkeiten, der Mangel am Nothwendigsten, die
übermässigen Anstrengungen bei mechanischen Arbeiten, die bei
den Brüche, welche Unterleibsstockungen und Schmerzen ver
mehrten , die Desorganisation der Nebenhoden, die heftigen
Schmerzen und völliger Mangel an ärztlicher Hülfe, zu letztem:
mannichfaltige Gemüthsbewegungen, denen Pat. ausgesetzt war,
Furcht, Angst und Schreck in den Kriegsjahren, Kummer über
die Krankheiten des Vaters und der Frau, Nahrungssorgeu, trübe
Aussicht in die Zukunft durch Abnahme der Kräfte und, als fort
dauernde Ursache, Scham und Reue über seine Selbstverstüm
melung. Schon früh war, wie erwähnt, Pat. schwächlich und mit
heftiger Kolik behaftet, die sein mühevoller Beruf unterhielt;
schon damals zog er sich aus frohen Kreisen zurück. Die viel
fachen Gemüthsbewegungen bestürmten seine Seele und unter
gruben immer mehr seinen Lebensmuth. Das tiefe Leiden der
Venen des Unterleibs theilte sich denen der Brust mit und
brachte mit den mechanischen Hindernissen der tiefen Inspira
tion, wegen Anschoppungen der Abdominalorgane, das Gefühl
von Angst und Beklemmung hervor. Der Druck des unpassen
den Bruchbandes bewirkte Verhärtung des Cremasters, wirkte
sehr nachtheilig auf Venen und Nieren des Samenstranges und
verursachte wohl die krebshafte Desorganisation desselben und
der Nebenhoden. Die heftigen Schmerzen in denselben, die bis
in den Unterleib gingen, raubten dem Kranken den Schlaf, schwäch
ten sein Nervensystem immer mehr und liessen ihn seinen Kum
mer auch Nachts nicht vergessen. Die Reizbarkeit der Seele
und des Nervensystems steigerte sich, während die Energie bei
der immer mehr sank. Die Religion konnte ihn unter solchen
Leiden nicht mehr aufrichten und die Herrschaft der Vernunft
über Gedanken, Gefühle und Willen ging ihm unter. Der Kranke
suchte, um nicht. Hand an sich zu legen, sich zu ertränken.
Seine Rettung hielt ihn bei seinem frommen Sinne fast ein Jahr
von weitern Versuchen zum Selbstmorde ab, bis ihn Seelenstö
rung und Schmerzen wieder zur Selbstvernichtung trieben. Nicht
die Sünde war die Ursache in diesem Falle. — Die sich darbie
tenden ludicationen waren Entfernung aus seinen häuslichen und