III. Pathologie, Therapie und mcdiciniache Klinik. 215
116. Eine seltene Gehirnkrankheit; vom M. R. Dr.
Ulbich in Coblenz. Ein 21jähriger Mann aus einer angesehenen
Familie, der sich besonders mit mechanischen Arbeiten, zu denen
er ausgezeichnetes Talent hatte, abgab, fing um die Mitte des Jah
res 1830 zu klageu an, dass ihm seine Arbeiten nicht mehr gelän
gen , seine Augen für kleine Sachen nicht mehr scharf genug wä
ren und die Gegenstände oft doppelt gesehen würden. Dabei fing
er mit dem linken Auge, mit dem er von Jugend auf geschielt hatte,
viel stärker an zu schielen, die Sprache wurde tonlos, der Fusstritt
steif, er stolperte oft über die eignen Füsse, aus der Ferne sah
der Gang hüpfend aus und stieg er nach einem Ritte vom Pferde,
so wurde er oft so schwindlig, dass er sich festhalten musste.
Da er aber von Jugend auf körperlich träg gewesen war und Abnei
gung gegen Spaziergänge und gymnastische Uebungen bewiesen
hatte< hielt er diese Zulalle für nicht bedenklich, bis sich im Jan.
1831 dieselben auf ein Mal sehr steigerten. Er hatte nämlich eine
Reise gemacht, auf der ihm die Kälte sehr zusetzte und war zu
letzt in der Nacht mit dem Eilwagen von Cöln nach Coblenz
gereist, wo er so erstarrt ankam, dass er eine Stunde im Post
hause sitzen musste, ehe er die wenigeu Schritte bis zu seiner
Wohnung zurücklegen konnte. Der Vrf. sah ihn am andern Tage
und, ausser grosser Steifheit, oder vielmehr Schwerbeweglichkeit
der Beine, fiel ihm besonders auf, dass Pat. sehr hastig und un
verständlich sprach und dabei oft unwillkührlich lachte, was er
früher nie getlian hatte. Dies unwillkührliche, besonders beim
Sprechen, doch wohl auch auf der Strasse sich einstellende Lachen
verlor sich später nicht wieder und bildete einen charakteristi
schen Zug der Krankheit. Das Schielen nahm seitdem beträcht
lich zu, Pat. sah deswegen doppelt und schätzte nur schwer die
Distanzen in der N’älie. Auch wurden die Hände schwach. Da
der Verf. diese Zufälle zunächst aus beträchtlicher Congestion
nach dem Kopfe herleitete, so verordnete er Blutegel hinter die
Ohren, lauwarme Bäder und gelind abführende kühlende Salze.
Die Eingenommenheit des Kopfs verlor sich darauf, auch wur
den die Beine wieder etwas besser gebraucht, doch trat wesent
liche Besserung aller Mühe ungeachtet nicht ein, und war Pat
höchstens 200 Schritte gegangen, so musste er wieder ausruhen.
Da der Vater und mehrere Geschwister an Vollblütigkeit im Un
terleibe leiden und die Constitution des Kranken offenbar dieselbe
war, so nahm man besonders auf diesen Punkt Rücksicht und
schickte den Pat. im Juni 1831 nach Wiesbaden. Da der Verf.
jedoch schon damals als mögliche Krankheitsursache sich ein or
ganisches Leiden des Rückenmarks dachte, so ersuchte er den
G. H. Peetz, den Kranken, ehe er ihn die Cur beginnen lasse,
genau zu untersuchen, jedenfalls aber Blutentziehungen voraus-
zuschickan und den Kopf im Bade mit kalten Tüchern belegen
zu lassen. P. widmete dem Kranken die grösste Aufmerksam-
keit, glaubte aber ein organisches Leiden nicht annehmen zu