Full text: (1909/10)

Rechtsgrundsätzen, welche gar nicht zu dem Zwecke jahrtausendlanger 
Geltung aufgestellt waren, ja zum großen Teil überhaupt nur die 
Entscheidung einzelner, ganz konkreter, eigenartiger Tatbestände sein 
Wollten. 
Justinian hat diesen Erstarrungs- und Entstellungsprozeß 
Gngeleitet, indem er die römische Rechtsliteratur in den Rahmen 
eines Gesetzbuches spannte, die Fiktion aufstellte, das alles sei 
aus einem Gusse und daß er mit suggestiver Täuschung den jahr- 
hundertlebigen Glauben erzwang, es habe damit seine Richtigkeit. 
Erst die allerjüngste romanistische Wissenschaft; erst die Wissen 
schaftsbewegung der letzten 40 Jahre hat diesen Glauben ab 
geschüttelt, das Gesetzbuch Justinians historisch aufgelöst und 
seinem Inhalte mit der historischen Wahrheit auch das innere Leben 
und die volle Bildungskraft zurückgegeben. 
In der Zwischenzeit, das heißt in den Jahrhunderten von 
Justinian bis auf die neueste Phase unserer Wissenschaft, hat 
allerdings die juristische Praxis nie ganz aufgehört, Belebungs 
versuche an jener erstarrten Materie vorzunehmen, und nicht ohne 
zeitweise Erfolge. Besonders waren es die italienischen Praktiker 
des 13. und 14. Jahrhunderts, an der Spitze die berühmten Kon 
siliatoren Bartolus und Baldus, und dann die deutschen Juristen 
des 17. und 18. Jahrhunderts, namentlich die Pfleger des so 
genannten usus modernus Pandectarum, welche dem überlieferten 
römischen Recht neues Leben, moderne Fortbildung, Anpassung an 
das Bedürfnis des Tages, also diejenigen Eigenschaften zurück 
zugeben versuchten, welche sein eigentliches Wesen, seine Größe 
ausmachten. Aber diese Versuche sind vergangen wie Wasser- 
Wellen, die durch die Brandung zurückgeschlagen und verschlungen 
werden. 
Schloßmann hat mit kritischem Feinsinn den Erscheinungen 
nachgespürt, welche im 18. und 19. Jahrhundert das Gegenteil von 
derjenigen Entwickelung bewirkte, welche nach seiner Grund 
auffassung dem „wirklichen Recht“ entsprochen hätte. 
Notgetan hätte nach Schloßmanns Auffassung eine Wieder 
erweckung der römischen Beweglichkeit und Freiheit. Anstatt 
dessen haben die zweite Hälfte des 18. und die ersten zwei Drittel 
des 19. Jahrhunderts uns eine Entwickelung gebracht, welche 
als Systematisierung und Dogmatisierung des Zivilrechts den 
ganzen Haß Schloßmanns gegen sich hatte und deren, man kann 
sagen, erbitterte Bekämpfung er als seine Lebensaufgabe betrachtete.
	        
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