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auf ein weiteres Publikum berechneten — sagen wir: feuilletonistischen
Produktionen in der Mitte stehen.“ Solche verdienen nur Beachtung,
soweit sie in weiten Kreisen unserer gebildeten Zeitgenossen grosses
Aufsehen erregen. Nun findet Nitzsch, der sich kaum die Frage vor
legt, was diese Wirkung Nietzsches auf weite Kreise positiv erklärt,
dass eine Kritik dieser praktisch einfach lächerlichen Utopie von System
überflüssig sei: „Der Dichter, vor den Wagen der Philosophie gespannt,
ist wie ein wildes Pferd durchgegangen und hat die Philosophie um
geworfen.“ „Seine Schwärmerei für die wilden Instincte der Urzeit
stempelt ihn zu einem Romantiker, sein Antinomismus zum Libertin,
seine Protektion der Selbstsucht zu einem Egoisten, sein . Hass gegen
das Demokratische zum Aristokraten oder Autokraten, sein Urteil über
den Staat zum Anarchisten. Sein System ist also romantischer, liberti-
nistischer, egoistischer, aristokratischer bezw. autokratischer Anarchismus.“
Dass man mit dieser an sich wohl zutreffenden Charakteristik dem
persönlichen Gehalt dieser Grösse nicht gerecht wird, empfinden wohl
nur Angehörige einer Generation, welche im Angesicht der Sphinx
„Masse“ gross geworden ist.
Dagegen tritt uns noch einmal Nitzsch’s innerste Art positiv
entgegen in seiner Vorrede zu den Von seinem Freunde Jess nach
gelassenen „Vorträgen über den christlichen Glauben“, Kiel 1892. - Indem
er an ihm „das ethische Pathos rühmt, d h. die deutlichsten Spuren
einer tiefen, die ganze Persönlichkeit des Redners lebendig durch
dringenden Ergriffenheit von dem Tröste und dem Ernste des Evangeliums
von Christo“, indem er den Geist der Jess’schen Predigten, die ihn regel
mässig zum Zuhörer hatten, beschreibt als „glaubensstarke Begeisterung
für das Christentum, ohne pietistische Sentimentalität, ohne falsches Wert
legen auf religiöse Phantasiethätigkeit, ohne Kanzelton: Klarheit der
Gedankenentwickelung ohne scholastische Nüchternheit; hohe ideale
Anforderungen an die eigne und fremde praktische Willensenergie ohne
allen Fanatismus“ — hat er damit die Art seines eigenen freien und
frommen, nüchternen und tiefen, vor allem tief ethischen Christenthums
beschrieben.
Dies Christentum, diese Treue gegen das ihm anvertraute, still
gehegte Geheimnis Christi hat er auch in den letzten langen Wochen
des Leidens und Abnehmens der Kraft bewährt. Auch da hat er nicht
viel geredet von dem, was ihm Trost und Ernst gab, aber er hat sich
still gefunden in einen allzu frühen Abschied von den Seinen, noch
zuletzt sich mühsam aufgerafft im Gehorsam der Pflicht, in der Sorge
um seine Kinder und um seinen Lehrstuhl. Niemandem, am wenigsten
seinen Kollegen, hat er je sein Christentum aufgedrängt; aber niemand
hat es ihn je verleugnen sehen. Er hat das Erbe seiner Väter gewahrt