Full text: (1898/99)

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auf ein weiteres Publikum berechneten — sagen wir: feuilletonistischen 
Produktionen in der Mitte stehen.“ Solche verdienen nur Beachtung, 
soweit sie in weiten Kreisen unserer gebildeten Zeitgenossen grosses 
Aufsehen erregen. Nun findet Nitzsch, der sich kaum die Frage vor 
legt, was diese Wirkung Nietzsches auf weite Kreise positiv erklärt, 
dass eine Kritik dieser praktisch einfach lächerlichen Utopie von System 
überflüssig sei: „Der Dichter, vor den Wagen der Philosophie gespannt, 
ist wie ein wildes Pferd durchgegangen und hat die Philosophie um 
geworfen.“ „Seine Schwärmerei für die wilden Instincte der Urzeit 
stempelt ihn zu einem Romantiker, sein Antinomismus zum Libertin, 
seine Protektion der Selbstsucht zu einem Egoisten, sein . Hass gegen 
das Demokratische zum Aristokraten oder Autokraten, sein Urteil über 
den Staat zum Anarchisten. Sein System ist also romantischer, liberti- 
nistischer, egoistischer, aristokratischer bezw. autokratischer Anarchismus.“ 
Dass man mit dieser an sich wohl zutreffenden Charakteristik dem 
persönlichen Gehalt dieser Grösse nicht gerecht wird, empfinden wohl 
nur Angehörige einer Generation, welche im Angesicht der Sphinx 
„Masse“ gross geworden ist. 
Dagegen tritt uns noch einmal Nitzsch’s innerste Art positiv 
entgegen in seiner Vorrede zu den Von seinem Freunde Jess nach 
gelassenen „Vorträgen über den christlichen Glauben“, Kiel 1892. - Indem 
er an ihm „das ethische Pathos rühmt, d h. die deutlichsten Spuren 
einer tiefen, die ganze Persönlichkeit des Redners lebendig durch 
dringenden Ergriffenheit von dem Tröste und dem Ernste des Evangeliums 
von Christo“, indem er den Geist der Jess’schen Predigten, die ihn regel 
mässig zum Zuhörer hatten, beschreibt als „glaubensstarke Begeisterung 
für das Christentum, ohne pietistische Sentimentalität, ohne falsches Wert 
legen auf religiöse Phantasiethätigkeit, ohne Kanzelton: Klarheit der 
Gedankenentwickelung ohne scholastische Nüchternheit; hohe ideale 
Anforderungen an die eigne und fremde praktische Willensenergie ohne 
allen Fanatismus“ — hat er damit die Art seines eigenen freien und 
frommen, nüchternen und tiefen, vor allem tief ethischen Christenthums 
beschrieben. 
Dies Christentum, diese Treue gegen das ihm anvertraute, still 
gehegte Geheimnis Christi hat er auch in den letzten langen Wochen 
des Leidens und Abnehmens der Kraft bewährt. Auch da hat er nicht 
viel geredet von dem, was ihm Trost und Ernst gab, aber er hat sich 
still gefunden in einen allzu frühen Abschied von den Seinen, noch 
zuletzt sich mühsam aufgerafft im Gehorsam der Pflicht, in der Sorge 
um seine Kinder und um seinen Lehrstuhl. Niemandem, am wenigsten 
seinen Kollegen, hat er je sein Christentum aufgedrängt; aber niemand 
hat es ihn je verleugnen sehen. Er hat das Erbe seiner Väter gewahrt
	        
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