Full text: (1898/99)

Entwickelung der Gegenwart hineinversetzt, zur gründlichen Auseinander 
setzung mit den brennendsten Fragen der christlichen Glaubenslehre an 
geregt werden. Der Verfasser hat wohl aus diesem Interesse heraus die 
Dogmatik definiert als „die wissenschaftliche Darlegung und Verteidigung 
des evangelisch-christlichen Glaubens- oder Bewusstseinsinhalts in den 
Denk-, und Ausdrucksformen des gegenwärtigen Zeitalters.“ Unser 
Verfasser vermochte es nicht über sich, von den Edeln und Gebildeten 
unter den Verächtern der Kirchenlehre abzusehen; treu seinen Ahnen 
blieb er auch in der Dogmatik Apologet des Evangeliums. Und dazu 
war er sonderlich befähigt durch den vornehmen, über den Parteien 
stehenden, alles erwägenden Charakter, der auf keines magistri verba 
schwört, aber bereit ist, von jedem zu lernen. 
Freilich hat nun dies dogmengeschichtliche und apologetische Interesse 
vielfach das eigentlich dogmatische verkürzt. Wir dürfen von Nitzsch 
nicht ein System verlangen, welches in seiner harmonischen und starken 
Einheit die ursprüngliche und persönliche Idee des Theologen ausdrückte 
und in erster Linie den eigenartigen Charakter seiner Individualität und 
seiner Entwickelung darstellte. Der vornehme und umfassende Eklekti- 
cismus seiner Resultate hat ihm mit Unrecht den Vorwurf der Un 
entschiedenheit und gar der Unfähigkeit zugezogen, sich zu äussern und 
es zu einem Abschluss zu bringen. Aber auch wir müssen zugeben, 
dass es Nitzsch nicht überall gelungen ist, die verschiedenen Elemente, 
denen er Einfluss auf sein Urteil verstattet, harmonisch zu einigen. 
Das Streben, den Leistungen der Arbeitsgenossen gerechtes Verständnis 
zu zeigen, allen geltend gemachten Gesichtspunkten gerecht zu werden, 
beeinträchtigt hie und da die Geschlossenheit und Schärfe der Bestimmungen. 
Fehlt aber auch alle kräftige, impulsive Einseitigkeit bei unserem 
Ausläufer der Vermittelungstheologie, so doch nicht die charaktervolle 
Selbständigkeit. „Das Buch ist frei von jenem polemischem Geist, der 
die meiste heutige Theologie verunstaltet, und doch hat sein Verfasser 
tiefe persönliche Überzeugungen.“ Ja, an manchen Stellen überflutet die 
Lebendigkeit der eigenen Glaubensüberzeugung die sonstige Objektivität, 
so dass dem Referat über die geschichtliche Entwickelung des betreffenden 
Lehrstücks schlankweg „die richtige Ansicht“ zur Seite gestellt wird. 
Wenn wir nun diese eigene Stellung Nitzschs auszumitteln suchen, 
so können wir wohl am ehesten Titius beipflichten, der konstatiert, dass 
Nitzsch bei aller Offenheit für das geistige Leben und für die wissen 
schaftliche Entwickelung der Gegenwart in zeitgemässer Weiterbildung 
von K. J. Nitzsch, Jul. Müller und Dorner den supranaturalen Charakter 
der Religion festgehalten hat. Die Konfessionellen warfen ihm vor, dass er 
zu ängstlich das von den Naturwissenschaften usurpierte Gebiet respektiere, 
dass sich immer wieder die moderne Scheu bei ihm geltend mache, auf
	        
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