Entwickelung der Gegenwart hineinversetzt, zur gründlichen Auseinander
setzung mit den brennendsten Fragen der christlichen Glaubenslehre an
geregt werden. Der Verfasser hat wohl aus diesem Interesse heraus die
Dogmatik definiert als „die wissenschaftliche Darlegung und Verteidigung
des evangelisch-christlichen Glaubens- oder Bewusstseinsinhalts in den
Denk-, und Ausdrucksformen des gegenwärtigen Zeitalters.“ Unser
Verfasser vermochte es nicht über sich, von den Edeln und Gebildeten
unter den Verächtern der Kirchenlehre abzusehen; treu seinen Ahnen
blieb er auch in der Dogmatik Apologet des Evangeliums. Und dazu
war er sonderlich befähigt durch den vornehmen, über den Parteien
stehenden, alles erwägenden Charakter, der auf keines magistri verba
schwört, aber bereit ist, von jedem zu lernen.
Freilich hat nun dies dogmengeschichtliche und apologetische Interesse
vielfach das eigentlich dogmatische verkürzt. Wir dürfen von Nitzsch
nicht ein System verlangen, welches in seiner harmonischen und starken
Einheit die ursprüngliche und persönliche Idee des Theologen ausdrückte
und in erster Linie den eigenartigen Charakter seiner Individualität und
seiner Entwickelung darstellte. Der vornehme und umfassende Eklekti-
cismus seiner Resultate hat ihm mit Unrecht den Vorwurf der Un
entschiedenheit und gar der Unfähigkeit zugezogen, sich zu äussern und
es zu einem Abschluss zu bringen. Aber auch wir müssen zugeben,
dass es Nitzsch nicht überall gelungen ist, die verschiedenen Elemente,
denen er Einfluss auf sein Urteil verstattet, harmonisch zu einigen.
Das Streben, den Leistungen der Arbeitsgenossen gerechtes Verständnis
zu zeigen, allen geltend gemachten Gesichtspunkten gerecht zu werden,
beeinträchtigt hie und da die Geschlossenheit und Schärfe der Bestimmungen.
Fehlt aber auch alle kräftige, impulsive Einseitigkeit bei unserem
Ausläufer der Vermittelungstheologie, so doch nicht die charaktervolle
Selbständigkeit. „Das Buch ist frei von jenem polemischem Geist, der
die meiste heutige Theologie verunstaltet, und doch hat sein Verfasser
tiefe persönliche Überzeugungen.“ Ja, an manchen Stellen überflutet die
Lebendigkeit der eigenen Glaubensüberzeugung die sonstige Objektivität,
so dass dem Referat über die geschichtliche Entwickelung des betreffenden
Lehrstücks schlankweg „die richtige Ansicht“ zur Seite gestellt wird.
Wenn wir nun diese eigene Stellung Nitzschs auszumitteln suchen,
so können wir wohl am ehesten Titius beipflichten, der konstatiert, dass
Nitzsch bei aller Offenheit für das geistige Leben und für die wissen
schaftliche Entwickelung der Gegenwart in zeitgemässer Weiterbildung
von K. J. Nitzsch, Jul. Müller und Dorner den supranaturalen Charakter
der Religion festgehalten hat. Die Konfessionellen warfen ihm vor, dass er
zu ängstlich das von den Naturwissenschaften usurpierte Gebiet respektiere,
dass sich immer wieder die moderne Scheu bei ihm geltend mache, auf