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heit schlicht dargebotenen Lehrvortrag den Gewinn einer sicher begründeten
dogmatischen Auffassung verdanken. Wäre aber auch' von solchen
Zeugnissen seiner Lehrwirksamkeit noch weniger zu berichten, so würde
doch das literarische Denkmal genügen, das er seiner Lehrbefähigung
und Lehrtreue gesetzt hat in dem „Lehrbuch der evangelischen Dogmatik“,
dessen erste Hälfte 1889, dessen zweite 1892 erschien, und von dem
bereits 1896 eine zweite, prinzipiell wenig veränderte, nur die Literatur
sorgsam nachtragende Auflage nötig wurde; die Vorarbeiten für eine
wirklich umgearbeitete dritte Auflage beschäftigten Nitzsch bis an sein
Lnde. Die Kritik aller theologischen Zeitschriften, der deutschen, eng
lischen, französischen und holländischen, der konfessionellen wie der
kritischen, war einig in der Anerkennung des vorzüglichen Lehr- und
Lernbuches voll gründlicher und geordneter Gelehrsamkeit, Klarheit und
Verständlichkeit, voll gesunder, besonnener Kritik, die den haltbaren
Kern der kritisierten Lehre oft auf einen überraschend glücklichen und
feinen Ausdruck bringt. Sonderlich die Zuverlässigkeit in der Verarbeitung
der Literatur, die klare und knappe Fassung der Probleme, die genaue
und detaillierte Inhaltsangabe, die umsichtige Herausstellung der Punkte,
in denen ein Konsensus erzielt ist, empfiehlt das Buch zur Unterlage für
Vorlesungen wie zur Weiterbildung von Geistlichen. So hat es denn
besonders in Kirchenblättern warme Empfehlung gefunden. Ein württem-
bergisches schreibt: „Ein Lehrbuch, welches das Vergangene, Überlebte
mit einleuchtender Kritik von dem Lebenskräftigen unterscheidet und
die Probleme klarstellt, an denen heute weiter zu arbeiten ist.“ Ein
rheinisches Gemeindeblatt empfiehlt „auch dem weiten Kreise der Gebildeten
diese klar geschriebene, wissenschaftliche Darlegung und Verteidigung
des evangelisch-christlichen Glaubens- oder Bewusstseinsinhalts in den
Denk- und Ausdrucksformen des gegenwärtigen Zeitalters“. Lobstein
aber trifft in seiner französischen Anzeige den innersten Punkt, wenn er
die Selbstverleugnung, womit Nitzsch alle anderen Auffassungen zu
Worte kommen lässt, als une impartiality charakterisiert, qui n’a d’egale
que sa patience.
Derselbe Kritiker hat gewiss mit Recht den Zusammenhang dieser
Dogmatik mit den dogmengeschichtlichen Vorarbeiten Nitzschs als einen
Hauptgesichtspunkt betont, ln der That, nur der Historiker von Genie
hat jenes innere Behagen an der geschichtlichen Mannigfaltigkeit, woraus
dies reiche und getreue Bild der Entwickelung entsteht, und jenen feinen
Fakt, die Mittellinie dieser Entwickelung zu treffen. Eine energischere
systematische Selbstwilligkeit wäre auch unfähig, die eigene Subjektivität
und Konstruktion so zurückzudrängen, dass die Aufstellungen der zeit
genössischen Theologie in unübertrefflicher Vollständigkeit und Durch
sichtigkeit vorgeführt und die Leser in den vollen Strom der dogmatischen