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Recht auf ihn zu erhalten schien, verlangte der Jüngling sehnlich nach wissenschaft
licher Unterweisung, Conrector Fromme in Nienburg, der schon seit October 1854
ihm Privatunterricht im lateinischen ertheilte, sah bald erfreuliche Fortschritte bei der
wachsenden Gesundheit; zum Latein trat dann unter Leitung desselben Mannes Fran
zösisch und Englisch; im übrigen studierte Rudolf Usinger eifrig für sich und vor
allem Geschichte, zu der er sich mächtig gezogen fühlte. Er machte sich mit
guten historischen Werken bekannt und hegte auch lebendiges Interesse für nieder
sächsische Geschichte und Alterthümer. Er trat in Verbindung und bald in Freund
schaft mit dem jungen Buchhändler Fritz Hahn in Hannover, der gleiche Studien
trieb und der ihm freundlich Rat und Beistand lieh. Auch ward er 1855 von dem
historischen Verein für Niedersachsen zum Mitglied aufgenommen. In seinem Herzen
wuchs der Wunsch, auf eine Universität zu gehn und dort sich weiter in dem Ge
schichtsstudium auszubilden, wenn er auch die Hoffnung, dadurch Ansprüche auf ein
öffentliches Amt zu erwerben, bei den mangelnden Vorbedingungen nicht zu hegen
wagte. Anfangs widerstund die Familie diesen Wünschen, endlich gab sie nach, und
Conrector Fromme stellte seinem Schüler am 1, Mai 1857 ein Zeugniss aus, worin er
sich rühmend über dessen unermüdeten Fleiss, die stete Aufmerksamkeit und vor
züglich über sein männlich-ernstes, wissenschaftliches Streben aussprach.
Auf dieses Privatzeugniss erfolgte Usingers Aufnahme unter die Studierenden
der Göttinger Universität am 17, October 1857, Es ist nicht zu leugnen, dass
seine Vorbildung eine sehr lückenhafte war. Im lateinischen stund er auf der Stufe
etwa eines Obersecundaners, mit dem griechischen hatte er sich gar nicht beschäftigt,
auch in den Realien hat er mit Ausnahme der Geschichte schwerlich die vollen
Schulkenntnisse gehabt, x\ber sein Wille war durch den langen Kampf mit dem Tode
gestählt, sein Nachdenken war geschärft und geübt, und so ersetzte seine sittliche Reife
die Mängel der wissenschaftlichen Vorbildung, an deren Beseitigung er unausgesetzt
weiter arbeitete. ] )
Mir liegt ein Brief Usingers vom 24. October 1857 an seinen Freund Hahn
vor, der in rührenden Worten die Seligkeit schildert, dass er nun Student ist, dass
er bei dem Gefühl körperlichen Wolbefindens seinem Triebe nach höherer Ausbildung
unter dem Vorbild und der Leitung berühmter Lehrer folgen kann. „Körperlich, ja
körperlich fühle ich mich Gottlob wohl! aber den Zustand meines Geistes, den wage
ich nicht mit einem Worte zu bezeichnen, denn das Wort selig scheint mir nicht zu
passen, eher glaube ich, ich könnte sagen, ich wäre trunken vor Freude. Möge
mir nur der Herr mein Glück erhalten. Sein Wille geschehen!“
’) Vou Gegnern des obligatorischen Maturitätsexamen ist Usiuger als Beweis für ihre Ansicht gebraucht
worden. Sehr mit Unrecht! er selbst hat am tiefsten empfunden, welche andere Sicherheit der geordnete und gesetzlich
abgeschlossene Schulunterricht für das akademische Studium gibt.