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Werthe und dem erstaunlichen Umfange der Musik gesagt werden könne und müsse.
All unser Rühmen, Preisen und Bewundern derselben werde stets blos gutgemeintes
Lallen und Stammeln sein und bleiben.“ Auch Seidel im Charinomos bestreitet, dass
der Poet mit dem Worte conventioneller Willkür die geheimsten Anliegen der
Menschenherzen so innig zu sagen vermöge, als der Tondichter durch die Mittel seines
Ausdrucks; wo die Rede nicht mehr zureiche, beginne die Sphäre der reinen Tonkunst.“
Poesie und Musik als Künste des bewegten inneren Lebens, jene als Kunst
des Geistes, diese als Kunst des Herzens, neben einander zu stellen, dürfte also nicht
gar zu kühn gewesen sein. Wird nun Ton und Wort, verbunden, so entsteht eine
Mischung, welche höchst widersprechend beurtheilt worden ist. Hand sagt: die Musik
sei vor Allem befähigt das Kunstideal auf die vollkommenste Weise darzustellen, so
lauere sie ohne weitere Verbindung mit anderen Künsten sich selbständig erhalte;
Ludolf Wienbarg behauptet das grade Gegentheil: Poesie und Musik in ihrer Ver
einigung äussern die wunderbarsten Wirkungen auf unser Gemüth. Aehnlich urtheilt
GrieperTkerl: „mit Hilfe der Poesie bleibt der Musik ausser dem Witze und allen
Spitzen des Verstandes nichts Menschliches unerreichbar; in ihren eigentlichen gemüth-
lichen und ästhetischen Elementen lässt sie die übrigen Künste oft weit hinter sich
zurück.“
Hier wäre daran zu erinnern, wie der grösste Dramatiker, Shakespeare, sehr
häufi" die Musik herbeiruft, um die Kraft seines Wortes noch zu steigern*) — und
nun dürfte man mit Wilhelm von Humboldt zu dem Schlüsse kommen, dass „der
von Worten begleitete Gesang unbestreitbar im ganzen Gebiete der Kunst die vollste
und erhebendste Wirkung hervorbringe.“
Es wird nicht unbemerkt geblieben sein, dass wir des erlauchten Hauptes der
modernen Philosophie, Hegels, noch nicht gedacht haben. Was er über die Musik sagt
^Aesthetik HL 125—219) ist — wie könnte es anders sein! — unzweifelhaft hoch
bedeutsam und geistreich, allein von all seinen Abhandlungen ist diejenige über die Musik
vielleicht dem modernen Bewusstsein am wenigsten entsprechend. Allem Augenschein
nach (man könnte dies schliessen aus dem Urtheile über Mozartsche Symphonien
P 171 a. a. 0., sowie aus dem Schlüsse der Abhandlung) urtheilte Hegel über die
Musik nur als Liebhaber. Wie hätte sonst er, der in dem nämlichen Jahre mit
Beethoven geboren ward, dessen Namen gänzlich unerwähnt lassen können!**) Dass
*s YVas Ihr wollt; I„ 1. Heinrich VIII.; III., 1. Der Sturm; V., 1. Der Kaufmann von
Venedig; III., 2; V., 1. Das Wintermärchen; V., 3. Mass für Mass; IV., 1. König
Lear; IV., 7. Antonius und Kleopatra; II., 5.
**) Pa«*. 201 wo Hegel von Operntexten spricht, sieht dies Verschweigen nahezu absichtsvoll
aus! H. hebt die Texte der „berühmten Gluckschen Opern“ hervor, „welche sich in
einfachen Motiven bewegen und im Kreise des gediegensten Inhalts die Liebe der
Mutter, Gattin, dc3 Bruders etc. schildern.“ Obwohl die Erwähnung des Fidclio hier
fast noth wendig erscheint, so ist sie doch umgangen.