Gegenstand die Farbe und deren Helle oder Dunkelheit ist. Aber auch er ist noch
nicht der am höchsten stehende Sinn: die Erfahrung hat bewiesen, dass Blinde ge
wöhnlich weiter in der Intelligenz fortschreiten als Taube.*) Den ersten Platz unter
den Sinnen weist die Psychologie vielmehr dem Gehör an. Es erschliesst mit Hilfe
der articulirten Wortsprache dem Menschen das Reich des geistigen Verkehrs und
bietet so die entscheidende Bedingung einer fortschreitenden geistigen Cultur. Schon
die Alten gaben zu, dass das Gehör der Seele näher stehe als das Auge; nur das
Gehörte, sagt Aristoteles, habe Einfluss auf den sittlichen Charakter und selbst ein
Lied ohne Worte (oi'vev köyov pekos) besitze eine grössere sittliche Kraft (r\$os) als
Farben. Auch sind Blinde in der Regel innerlich gesammelter als Taube. Und da nun
das Gehör in der Menschenseele den Boden für Ton und Wort bereiten muss, so
ermebt sich aus der Vergleichung dieses Sinnes mit den vier andern ebenfalls, das3
Musik und Poesie die höchsten Kunstformen sind.
Wenn aber diese beiden der Architektur, Sculptur und Malerei sich unzweifel
haft überleben zeigen — welche Stellung nehmen sie dann zu einander ein?
Gewiss würde es nicht leicht sein, die Behauptung zu stützen, dass der Musik
ein höherer Platz unter den Künsten gebühre, als der Poesie. Denn diese hat den
allgemeinsten Stoff, den allgemeinsten Umfang, das allgemeinste Mittel der Darstellung;
in ihr ist das sinnliche Material auf ein Minimum redueirt: auf das Wort, das Zeichen,
Ihr Stoff ist die menschliche Sprache, ihr Gegenstand die gesammte Welt der Ideeen
und Vorstellungen des menschlichen Geistes, dessen eigentliche Kunstform sie ist.
Wollte man freilich obige Frage schlechthin nach den blossen Wirkungen der Musik
und Poesie entscheiden, so könnte die Antwort allerdings zweifelhaft sein, denn die
Musik zeigt sich mächtig gegenüber einer ganzen Reihe von Wesen, welche für das
Wort keine Empfindung haben: die Wirkungen der Töne auf Thiere, namentlich
Spinnen, Eidechsen, Fische, Hunde, Hirsche, Pferde, Elephanten sind schon seit Plinius’
Zeiten bekannt.
Schwerer noch fiele vielleicht eine vom Geist hergeleitete Wahrnehmung in’s
Gewicht zu deren Klarlegung wir uns eines Bildes aus der Chemie bedienen. Be
kanntlich destillirt der Chemiker einen Spiritus etc. drei, vier Male, bevor derselbe
den höchsten Grad der Feinheit und Reinheit erlangt. Fast scheint es, als müsse die
Natur um grosse Musiker zu erzeugen, ähnlich verfahren; als bedürfe der himmlische
Genius der Töne erst mehrerer Generationen, um in seiner ganzen Reinheit auf einen
Sterblichen sich niederzulassen. Oder sollte es durchaus zufällig sein, dass — während
weder die Eltern Goethes noch Schillers noch Lessings eine starke dichterische Ader
hatten diejenigen unserer Tonheroen fast ausnahmslos Musiker von Fach waren?
Die Bachs repräsentiren ein ganzes Dynastengeschlecht von Tonkünstlern; Haydns
*) Der Unterschied zwischen Schrift und Rede giebt den Massstab für die Bcurtheilung.