geht. Wir wissen nur, dass eine Veränderung in der Thätigkeit des Nervensystems
stattgefunden hat, wie in der Thätigkeit des Eisens durch den Verlust der mag
netischen Kraft.“
Es lässt sich in der That a priori Nichts einwenden gegen die Möglichkeit,
dass durch Erschütterung im Rückenmark krankhafte Veränderungen entstehen, auf
deren Existenz wir aus den Krankheitssymptomen schliessen, die wir jedoch nicht
allemal auch auf dem Leichentische zu constatiren im Stande sind. Brodie (Schmidt-
sche Jahrbücher, B. 28, S. 256) bemerkt drum mit Recht: „Wie man bei einer
Gehirn-Erschütterung nicht berechtigt ist zu schliessen, dass, wenn nach dem Tode
keine Veränderungen entdeckt werden, eine wirkliche organische Verletzung nicht
stattgefunden habe, so auch bei Rückenmarks-Erschütterung. Da uns der innerste
Bau des Centralnervensystems und die Function" der feinsten anatomischen Theile
nicht genau (genug) bekannt ist, so können sie durch Erschütterung Veränderung und
Umstimmung erfahren, die wir ebensowenig mit unsern Sinnen entdecken können.“
Solche Fälle von Rückenmarks-Erschütterung sind indess nicht nur möglich,
sie sind auch thatsächlich von glaubwürdigen Autoren berichtet worden. So erzählt
uns Boyer (vgl. Erichsen S. 19) von einem Patienten, der durch Fall in einen tiefen
Graben eine Erschütterung erlitt, die eine Lähmung aller Theile zur Folge hatte.
Bei der Obduktion konnte keine Krankheitserscheinung entdeckt werden, weder Bruch,
Verrenkung, Erguss, noch irgend welche Verletzung des Rückenmarkes oder dessen
Häute. Ein anderer Patient Boyer’s acquirirte sein Leiden bei gymnastischen Uebun-
gen, wurde gliederlahm und starb in einigen Wochen. Nach dem Tode wurde
durchaus keine Verletzung des Rückenmarkes gefunden.
Indess würden wir das Capitel der Commotio medullae spinalis doch gar zu
sehr beschneiden, wenn wir nur solche Fälle in dasselbe aufnehmen wollten, bei
welchen der Obductionsbefund ein absolut negativer ist. Es liegt in neuerer Zeit,
Dank den fleissigen Untersuchungen der pathologischen Anatomie, bereits eine An
zahl positiver Obductionsbefunde von Commotio medullae spinalis vor. Man hat
Rückenmark und Häute in verschiedener Weise erkrankt, entartet und zerstört ge
funden. Diese Befunde sind jedoch noch zu vereinzelt und spärlich und vor Allem
auch zu wenig mikroskopischer Natur, um uns über das Wesen der Rückenmarks-
Erschütterung befriedigenden Abschluss zu geben.
Wenden wir uns desshalb zunächst an die klinischen Beobachtungen. Sie
sagen uns in der That mehr über Commotio medullae spinalis, als die pathologische
Anatomie. Die Beobachter am Krankenbette haben uns von der Rückenmarks-
Erschütterung nach und nach ein Bild gezeichnet mit so wahren, scharfen und cha
rakteristischen Zügen, dass wir beim Anblick desselben vor Allem die Ueberzeugung
gewinnen, dass die Commotio medullae spinalis kein construirtes, sondern ein der
Wirklichkeit entsprechendes, typisches, für sich dastehendes Krankheitsbild sein
muss; dann aber wird sich uns dies Bild auch so tief einprägen, dass wir es trotz