S °J1 die Persönlichkeit die grösten Kräfte haben; durch kinderartiges glauben und
fordern, durch höchste Empfindung soll dem Menschen bei und über Gott alles
möglich sein. Im Anfang ergriff die zuschauenden diese Intuition des himmlischen
Menschen, wie Herder es nannte, tief. Allein bald trat in Lavater die allen alles sein
wollende Eitelkeit, die Auflösung der Religion in genusssüchtige Schwärmerei, ein
abenteuerliches Prophetenthum unverhüllt heraus. Seine Empfindung und Phantasie ent
liefen völlig der Zuchtfrau Vernunft. Das Gemisch von Grösse und Kleinheit, von
Wahrheit und Trug, das von Anfang in ihm war, erhielt immer bedenklichere Verhält
nisse. Lavater wird durchaus eine krankhafte Erscheinung, aber er vertritt dennoch
die Kraftgenialität, welche in der Religion zu wirken strebt.
In dem vierten Versuch der physiognomischen Fragmente hat Lavater das
Vesen des Genies erklärt. Aus der langen Rede hebe ich folgendes aus: „Genie, das
allererkennbarste und unbeschreiblichste Ding, fühlbar wo es ist und unaussprechlich
Wie die Liebe. Der Character des Genies und alle Werke und Wirkungen des Genies
lst -Apparition — Engelserscheinung. Genie — propior deus oder nenn es, beschreib
c ' s wie du willst und kannst — allemal bleibt das gewiss, das ungelernte, unentlehnte,
Unlernbare, unentlehnbare, innig eigenthümliche, unnachahmliche, göttliche ist Genie,
das inspirationsmässige ist Genie. — Unsterblich ist alles Werk des Genies wie der
bunke Gottes, aus dem es fliesst. Unnachahrnlichkeit ist der Character des Genies
Ur >d seiner Werke, wie aller Werke und Wirkungen Gottes; Unnachahrnlichkeit,
Mornentaneität, Offenbarung, Erscheinung, Gegebenheit, was wol geahnet aber nicht
gewollt, nicht begehrt werden kann, oder was man hat im Augenblick des wollens und
begehrens ohne zu wissen wie, was gegeben wird nicht von Menschen, sondern von
G°tt oder — vom Satan!“
Aus Klang und Inhalt dieser Worte spricht die des höchsten sich vermessende,
auf Natur und Inspiration trotzende Art der Schwarmgeister jener Litteraturepoche.
Je ferner sie dem wirklich unnachahmlichen, dem gottbegeisteten und menschlich
Wahren blieben, um so kecker und eitler prahlten sie damit. Der „die unbemerktesten
Sichtbarkeiten, die innigsten Unsichtbarkeiten ohne Ton und Manier“ wirklich hatte
Ur ‘d hinstellte, Goethe, rühmte sich seiner Gaben am wenigsten.
Aber alle jene Aeusserungen der Zeit, die ich mehr andeuten als ausführen
konnte, hangen zusammen mit dem unruhigen streben aus der engen Persönlichkeit
Un d aus der alten Cultur. Wie bei der Kunde von einem neuen Goldlande die
Bewohner armer Länder ein krankhafter Trieb nach den gefundenen Schätzen fasst,
8 o machte der Jugend vor hundert Jahren das entdeckte neue Reich der Seele das
Haus voll Urväterhausrat zu eng, und neues fühlend, denkend und fordernd trachtete
sie nach dem Gewinn des neuen Lebensideals. Schwärmerisch fliessen die Selen
zusammen, ein hastiger Freundschaftsenthusiasmus, ein weiches Licbesbedürfniss geht
wie eine Krankheit durch die Gesellschaft. Man stellt die grösten Forderungen an