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mannhafter Wille das eingeborene Rechtsgefühl gegen juristische und politische Formen
mit dem Schwerte vertheidigte. Jenes Drama war nicht bloss nach seiner Gestalt
revolutionär; es war recht eigentlich ein Fehdebrief an das erstarrte heilige römische
Reich, ein dichterischer Weckruf an die entschlafenen Geister germanischer Helden.
In diesem Sommer werden einhundert Jahre voll, dass Götz von BeiTichingen
erschienen ist.
Viele begriffen die nationale Bedeutung dieser dramatisirten Geschichte aus
glücklich gewählter Zeit. Die Menge freilich ahnte sie nur dumpf, und ihre Freude an
<iera lebensvollen Werke zeugte um so stärker von der .Jugendfülle seiner poetischen
Kraft.
Allen- verständlich und ungezählte Herzen überwältigend trat dann im Herbst
1774 Goethes zweite grosse Dichtung hervor, der Werth er. in ihm verkörperte
sich die schwüle Stimmung der damaligen Jugend. Grosse Forderungen an sich und
<lie Welt trafen zusammen mit dem Bedürfniss einer starken Leidenschaft; der Durst
nach Sättigung in freister Empfindung verband sich mit heftiger Verachtung des
conventionellen Gesetzes; ein krankhafter Lebensüberdruss lag Herz an Herz mit dem
glühendsten Lebensverlangen. Da schuf der Dichter mit gröster Meisterschaft eine Ge
stalt die alles dieses fühlte, und die folgerichtig durch solches leben und leiden zu ihrem
dunkeln Schicksal wandelte: zerknirscht warf sich die Jugend vor dieses ihr Ideal
nieder, eine Erschütterung ohne gleichen rollte durch die deutschen Herzen. Die
Leiden des jungen Werther wirkten wie eine That; ihre poetische Schönheit konnten erst
spätere begreifen, die auch des Dichters Absicht, ein Bild des gefahrvollen strebens
in das unendliche zu entwerfen, erkannten.
Werther hangt innerlich mit Faust und Prometheus zusammen, jenen titanischen
Gestalten, zu denen Goethe in denselben Jahren sich gezogen fühlt, weil sie die
sagenhafte Verkörperung des Geistes der Zeit sind. Prometheus trägt den Stolz
des „heilig glühenden“ Herzen, das alles selbst vollenden zu können meint, die Auf
lehnung des unzufriedenen Geistes gegen die ruhige Macht des ewigen Gesetzes.
Faust wurzelt in dem ungestillten Verlangen nach Befriedigung in Genuss und in
Erkenntniss; er überschreitet die menschlichen Gränzen um die Sättigung zu finden und
dann von seinem Reichthum die armen Menschen zu beglücken. Aber er geht zu
Grunde weil er die Gränzen überschritt. Die Zeit war voll dunkler faustischer Triebe,
mehr als einer trachtete die alte Sage poetisch zu erneuen; doch keinem gelang es
als Goethe, der bereits 1774 und 1775 daraus Svenen von wunderbarer Schönheit
und höchster geistiger Bedeutung dichtete.
Seine Sele umspannte mit jugendlicher Fülle die Weiten des menschlichen
Daseins. Liebesglück und Liebesschmerz ertönt aus den tiefen Worten seiner Lieder,
mit Witz und Spott schlägt er schwaches und schlechtes, die socialen Probleme berührt
seine darstellende Hand, und die Geschichte der Bildung der Menschheit reicht ihm