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kam (Lebensbild I. 3. 1, 393); er hatte nicht fruchtlos Lowth (de sacra poesi
Hebraeorurn 1753) und Young (conjunctures on original composition 1759) gelesen.
Neben der buchmässigen Dichtkunst öffnet sich nun der Schatz der ungeschriebenen
Poesie. Er verkündet den Deutschen die Gewalt des Lied und Sa<*e schaffenden
Urgeistes, er zeigt die unvertilgbare Schönheit des Volksliedes aller Nationen, er malt
den Reiz der morgenländischen Poesie, er lehrt Homer als unsterbliches Muster des Epos,
deutet Geist und Form der griechischen Tragiker, öffnet die Augen für Shakespeare,
stärkt die Empfindung für Ossian und zieht die Grundlinien einer Geschichte der
Poesie aller Völker, im besonderen der Deutschen.
Die Verehrung des natürlichen, das Gefühl für das menschliche und volks-
mässige, die Erkenntniss der Bedeutung der Poesie für die Bildung der Nationen
durchdringen ihn, und auf dieser Grundlage ruht auch seine Kunstbetrachtung. Er
geht ebenfalls hier von dem menschlichen aus und erklärt die Aesthetik als eine
Naturlehre (Lebensbild II, 395). In seinem Verständniss der geschichtlichen und
nationalen Entwickelungen bestreitet er die Alleinberechtigung der antiken und vertritt
zuerst mit Entschiedenheit den nationalen Wert der modernen Kunst.
Poesie und Kunst sind nur einzelne Aeusserungen des geistigen Lebensf
Herder strebt aber von Jugend auf das ganze zu erfassen. Humes natürliche Ge
schichte der Religion weckte in ihm den Plan zu einer Geschichte der Religionen,
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die er aus dem poetischen und dem politischen Gesichtspunkte entwerfen wolte. Einen
Theil solte die Archäologie des Morgenlandes bilden, deren Anfänge wir in den
Schriften über die älteste Urkunde des Menschengeschlechts und über den Geist der
ebräischen Poesie besitzen. Herders leztes Ziel war eine Universalgeschichte der
Bildung der Welt (Lebensbild II, J67 ff.). Er hat sie niemals geschrieben; aber im
engsten Zusammenhang mit dieser Absicht steht sein reifstes Werk; die Ideen zur
Philosophie der Geschichte der Menschheit. Mit genialem Blick und sicherer Hand
sind die Natui dei Erde und die Natur des Menschen als Grundlagen jeder geschicht
lichen Entwickelung nachgewiesen und als höchstes Ziel die Humanität verkündet.
Herdeis Stellung zu der lheologie brauche ich hier, wo ich nur von seiner
eisten Zeit rede, bloss anzudeuten. Er konnte auch dabei seine Bestimmung, für
das menschliche zu wirken, nicht verläugnen. In einer Zeit, da tlieils erstarrte
Orthodoxie tlieils kalter Unglaube herrschte, bereitete er eine neue geistigere Erlassung
des Kristenthums vor. Sein historischer Sinn erschloss ihm die weltgeschichtliche
Bedeutung der Kristusreligion, und er fand die Versöhnung zwischen ihrem Kern und
seinem Glauben an die Würde der Menschlichkeit darin, dass die Lehre des
historischen Kristus das Ideal der menschlichen Vollkommenheit und Glückseligkeit
enthülle.
Dass ein Mann, den die Humanitätsidee völlig durchdrang, für die Erziehung
der Jugend Gedanken und Willen haben muste, ergibt sich leicht. Höchst anziehend