Full text: (Band XIX.)

Leid existirt nur in der Phantasie blinder Verächter. Dagegen kann ihren Nutzen 
nur derjenige läugnen, der überhaupt logische Folgerungen zu ziehen nicht im Stande 
ist. Durch die sorgfältigste objective Kritik der Thatsachen ist festgestellt, dass die 
Kuhlympfe einen sicheren, wenn auch bedingten Schutz gegen Variola gewährt, dass 
seit der Einführung der Vaccination die Zahl der Erkrankungsfälle an Blattern be 
deutend abgenommen hat, dass die Geimpften durchgängig von einer sehr leichten 
ungefährlichen Form der Krankheit, während die Ungeimpften in gleicher Heftigkeit 
wie früher davon befallen werden und dass endlich die Sterblichkeit an Blattern 
(starb doch in weniger mörderischen Epidemien ein Drittheil der Bevölkerung, Trous 
seau) in Europa seit der allgemeinen Cow-poximpfung um ein vielfaches abgenommen 
hat. Diese Erfahrungen durch weitausgedehnte statistische Erhebungen gewonnen, 
wie sie sich vorzüglich in dem vortrefflichen kleinen Werke von Kussmaul (20 Briefe 
über Menschen- und Kuhpockenimpfung) finden, stimmen mit den auf theoretischem 
Wege von Jenner und zahllosen anderen Forschern gefundenen Resultaten vollkom 
men überein. An Tausenden von Geimpften ist die Gegenprobe mit Variolagift ge 
macht und immer hat sich die Vaccine als sicheres Prophylacticum erwiesen Ferner 
hat Variolalymphe auf Kühe übertragen bei diesen echte Cow-poxpusteln hervorge 
rufen, mit deren Inhalt vollkommen normale Vaccine, die viele Generationen hindurch 
sich immer bewährte, erzeugt worden ist und ebenso ist Vaccinalymphe nach einem 
neuen Versuche von Dr. Senfft (mitgetheilt in der Berl. klin. Wochenschrift 1872 
No. 17) mit bestem Erfolge auf Kühe übertragen werden, bei denen die nachherige 
Inoculation von Variolagift, welche, was sehr wohl zu beachten, vorher an noch nicht 
geimpften Kühen mit vollständig positivem Erfolge ihm gelungen war, gänzlich fehl- 
schluo' alles Thatsachen, die es höchst wahrscheinlich machen, dass Vaccine und Va- 
riola gleichartigen, wenn nicht gar identischen Giften ihren Ursprung verdanken. Da 
nun nach dem heutigen Standpunkte der Wissenschaft nur gleichartige Krankheits 
gifte, wie z. B. das einmalige Ueberstehen von Masern, einerlei ob sie auf künstli 
chem oder natürlichem Wege entstanden sind, vor erneuter Ansteckung der Regel 
nach schützen, nicht aber ungleichartige, wie z. B. Masern vor Scharlach, so ersieht 
man doch, dass die Jennersehe Entdeckung den wissenschaftlichen Beweis nicht zu 
scheuen braucht. — 
Dass trotzdem die Vaccination nicht das geleistet hat, was man von ihr er 
warten konnte, hat ihren Grund zum Theil in irrigen Ansichten über das Wesen der 
Vaccine und zum Theil in der unzweifelhaften Degeneration derselben. Zuerst hat man 
nicht berücksichtigt, dass die Schutzkraft der Kuhpocken mit der Zeitentfernung 12 ) 
von der Impfung allmählig abnimmt und bei den meisten Menschen nach und nach 
erlischt, derartig, dass die Geimpften in den ersten 10—13 Jahren nach der Impfung 
1J ) Kussmaul. 20 Briefe etc. pag. 41. 
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