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mit merkwürdiger Uebereinstimmung, wie sie am Abend vor dem Beginn der Schule
ihre Mappe vielmal aus- und eingepackt, das neue Schulkleid immer wieder zurecht
gelegt und alle Mitglieder der Familie gebeten hätten, sie doch ja recht frühzeitig
zu wecken. Einzelnen war auch der Moment recht fest in der Erinnerung geblieben,
wo sie der Lehrerin von der Mutter übergeben und beim Scheiden dieser seitherigen
Führerin von der grössten Angst erfasst wurden.
ln der That ist auch dieser Augenblick des Ueberganges von der Familie zur
Schule einer der gewaltigsten und bedeutsamsten im ganzen menschlichen Leben, und
wiederum ganz besonders für sanguinische Naturen, denen die Schule zur Ergänzung
der häuslichen Erziehung Festigkeit und Selbstständigkeit zu eigen machen soll.
Die Hauptaufgabe der Schule ist zwar das Unterrichten; doch dieses übt, wenn es in
der richtigen Weise geschieht, an sich schon einen grossen erziehenden Einfluss aus,
und Unterricht und Erziehung müssen allezeit Hand in Hand gehen. Das liegt auch
schon in dem lateinischen Worte disciplina angedeutet, welches ebenso Lehre, Unter
richt, wie Zucht, Erziehung bedeutet.
Fassen wir einmal die Etymologie von „erziehen“ ins Auge. Die Vorsilbe
„er“ hat die Bedeutung von heraus oder empor, und nach Analogie des Wortes
erudire ist das Erziehen also ein Herausziehen aus dem Zustande natürlicher Roheit
vermittelst des Unterrichts. Das Ziehen scheint auf den Widerstand der menschlichen
Trägheit hinzuweisen, und das ganze Verbum deutet auf eine Thätigkeit, die in einem
bestimmten Zwecke ihre Vollendung findet.
Wie bei jedem physischen Hochziehen drei Momente, der zu ziehende Körper,
die ziehende Kralt und das Ziel des Ziehens unterschieden werden, so wird sich uns
auch bei der geistigen Thätigkeit des Erziehens ein dreifaches Princip: ein anthropo
logisches, methodisches und teleologisches von selbst darbieten. Durch die Anthro
pologie mit Einschluss der Psychologie gewinnen wir die Erkenntniss der allgemeinen
Menschennatur und die Grundlage für die richtige Beobachtung und Beurtheilung
der individuellen Eigentümlichkeiten des Zöglings. Haben wir aber so durch die
Einsicht in die Gesetze der menschlichen Natur und ihrer Entwickelung den Aus
gangspunkt für die erziehende Thätigkeit gewonnen, so wird der von dem Erzieher
einzuschlagende Weg, die Methode, jenen Gesetzen entsprechen müssen.
Das Gelingen des Erziehungswerkes ist aber drittens durch das teleologische
Princip bedingt, welches der Pädagogik als einer practischen Wissenschaft durch die
practische Philosophie, oder, wie die Theologen verlangen, von der practischen
Theologie vorgeschrieben wird. Mögen wir nun Sittlichkeit und Tugend als allgemei
nes pädagogisches Ziel hinstellen, oder in specifisch christlichem Sinne die Nachfolge
Christi, oder, wie Palmer, nach 2 Timoth. 3, 16: Dass ein Mensch Gottes sei voll
kommen und zu allem guten Werke geschickt“ die Vollkommenheit als Endzweck
setzen, in jedem Falle muss das Ziel bestimmt ins Auge gefasst werden. Darum