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Wenn nun ein sanguinisches Kind in der vorher erwähnten Weise an ein
genaues Sehen und Hören und geordnetes Denken und Sprechen gewöhnt, zu einer
gewissen Ausdauer in mechanischen Beschäftigungen angeleitet und durch das Lernen
kleiner Gedichte, sowie durch die Mittheilung positiver Religionswahrheiten (die auch
Kant [Pädag. S. 431] empfiehlt) mit einem Schatze für sein Gemüth versehen worden
ist, so hat es auf diese Weise eine Brücke über die Kluft genommen, welche zwischen
dem Hause und der in ihm herrschenden Freiheit und der Schule mit ihrem stunden
langen Zwange liegt. Viele Eltern, welche ihr lebeudiges und bewegliches Kind nicht
recht zu beschäftigen wissen, möchten zwar den „Plagegeist“ womöglich noch vor
der gesetzmässigen Zeit der Schule übergeben; allein nach der Ansicht der Aerzte,
weicht: in dankenswerther Weise gegenwärtig mehr als früher der Schule und ihren
äusseren Einrichtungen ihre Aufmerksamkeit schenken, empfiehlt es sich, besonders
schwächliche Kinder ein Jahr später, also erst mit dem vollendeten sechsten Jahre
„einzuschulen“. Für Mädchen ist auch der Nachmittagsunterricht, namentlich im
Sommer, in körperlicher Hinsicht nicht vorteilhaft, und hat man dessen Abschaffung,
respective seine Beschränkung auf facultative Unterweisung in den technischen Gegen
ständen in vielen hiesigen höheren Töchterschulen mit Erfolg versucht.
Was nun das Verhältniss des Hauses zur Schule anbetrifft, so hängt von
der richtigen Auffassung desselben zum grossen Theil der Segen der Schulthätigkeit
ab, und, so verderblich Einschüchterung unartiger Kinder, vorzüglich von melancholi
schem Temperamente, durch Hinweis auf die ihnen in der Schule drohenden Strafen
werden kann, so förderlich für die Arbeit des Lehrers ist die hohe Meinung von dem
ersten Schulbesuche, welche sich kleinen Kindern infolge des Gespräches der Eltern
oder älterer Geschwister unwillkürlich einprägt.
Welch' tiefen Eindruck die Zeit vor dem ersten Schultage selbst auf das Ge.
müth der in der Mehrzahl sanguinischen Mädchen macht, erhellt z. B. aus folgendem
Klassenaufsatz einer Schülerin über das Thema: Erinnerung an den ersten Schultag*
Die kleine Verfasserin erzählt zuerst, wie sie im Stillsitzen geübt worden sei, und
fahrt dann fort: Ach, wie ward mir das Sitzen sauer! Die Linden, die vor unserem
Hause stehen, lockten mich in’s Freie hinaus. Ich hörte, wie der Vogel mich rief
mit sehnsüchtigen Tönen, Die Puppe auf dem Tische schien mir zu winken. Nun
ist der Schultag da, und ich habe weder an den Vogel, noch an die verlassene
Puppe gedacht.
Ganz stolz wanderte ich an dem verhängnisvollen Morgen an der Seite mei
nes Papas die Markgrafenstrasse entlang. Am Arme trug ich eine grosse schwarz-
lackirte Mappe; auf der waren in goldner Schrift die Buchstaben L. N. zu lesen
Der Inhalt der Mappe bestand in Fibel, Tafel und Griffel nebst einem Milch
brot und einem rothwangigen Apfel. Die beiden letzten Dinge hatte die besorgte
Mama trotz meines Widerstrebens eingepackt u. s. w. Andere Mädchen erzählten