Einleitung.
Das fränkische Sprachdenkmal, mit dem sich die folgende Untersuchung be
schäftigt, geht gewöhnlich unter dem Namen des Tatian. Es ist die Uebersetzung
einer alten Evangelienharmonie, welche Bischof \ ictor von Capua (im 6ten Jahrh.)
zufällig kennen lernte. Er suchte, von wem sie herrühren konnte, und fand, dass die
Namen zweier Verfasser solcher Harmonien überliefert waren, Ammonius und Tatian.
Zweifelhaft, welchem er das gefundene Werk zuschreiben sollte, war er doch geneigter
den Tatian als Autor anzunehmen. Dieser Ansicht ist denn die Nachwelt in Ausgaben'
und Anführung der lateinischen wie der deutschen Arbeit gefolgt. Erst Schmeller
wies nach, dass der Name des Ammonius viel wahrscheinlicheres Anrecht auf die Ar
beit habe. Da dies aber bis zur Evidenz nicht nachgewiesen werden kann, und da der
Name des Tatian einmal der gebräuchliche ist, habe ich nicht angestanden, die einmal
angenommene Benennung meiner Abhandlung vorzusetzen. Weiteres über die Sache
sehe man in Schmellers 1 Vorrede zu Ammonii Alexandrini quae et Tatiani dieitur
Harmonia Evangeliorum, ed. Schmeller. Viennae 1841, welche Ausgabe meiner Arbeit
zu Grunde liegt.
Die fränkische Uebersetzung des Tatian ist aus verschiedenen Gründen wichtig.
Dürfen wir schon annehmen, dass die durch Victor von Capua der Kirche empfohlene
und in Folge dessen im Mittelalter stets hochgehaltene Harmonie in ihrer lateinischen
Gestalt den Deutschen die Kenntniss der historischen Grundlage des Christenthums
vorzugsweise vermittelt hat, — brachte doch bereits vor der Mitte des 8. Jahrhunderts
Winfrid-Bonifäcius des Victor von Capua Urhandschrift selbst mit nach Deutschland,
nach Fulda, \£o sie noch bewahrt wird; — wie viel bedeutender muss die Einwirkung
der deutschen Uebersetzung und zwar in einem mittleren, also Ober- wie Niederdeutschen
gleichermassen ziemlich verständlichen Dialect gewesen sein. Auf dem Sangaller Exern-