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und dialektisch gewandten Forscher und Systematiker auf dem gesammten Gebiete
derjenigen philosophischen Discipline^ welche zunächst das Geisteswesen betreffen,
als Meister philologisch-historischer Ergründung der altgriechischen Philosophie ferner,
als Uebersetzer namentlich der Schriften des Platon, des antiken Führers der religiös
mystischen Richtung der Philosophie, in die deutsche Sprache, und als Bahnbrecher
für die Erkenntniss der genetischen Ordnung dieser Schriften, als vielseitig fruchtbaren,
classisch ausgezeichneten Universitätslehrer und Schiäftsteller, als deutschen und
preussischen Patrioten in der Zeit der Franzosenherrschaft und als unerschrockenen,
streitbaren Fürsprecher und Vorkämpfer der freien nationalen und politischen Ent
wickelung in der nachfolgenden Zeit, als musterhaften Sohn, Bruder, Ehegatten und
Familienvater, als Virtuosen der Freundschaft, im Verhältnis zu den zahlreichen ihm
befreundeten Männern und Frauen, als für alles Gute und Schöne geöffneten und zur
Förderung desselben hüifreichen, einsichtigen, charakterfesten, wohlwollenden und
gewandten Genossen des allgemeinen Gesellschaftsverkehrs in Ernst und Heiterkeit,
Wie reich und mannichfaltig nun aber auch der Stoff ist, welcher sich auf
solche Art für die Festreden auf Schleiermacher darbietet: so ist doch die geschichtliche
Gesammtbedeutung seines Lebens uns am Vollständigsten in seiner theologischen
und kirchlichen Stellung und Wirksamkeit gegeben; es ist überdieses die richtige
Schätzung Schleiermachers in dieser Beziehung für das Verständniss der Bestrebungen
und Kämpfe unserer gegenwärtigeii Zeit am Wichtigsten.
Die Natur der Sache weist uns mithin dazu an, den überwiegend theologischen
und kirchlichen Gesichtspunkt festzuhalten, so dass unsere Festrede uns Schleiermacher
als theologischen und kirchlichen Reformator vorzuführen haben wird.
Zuvörderst tritt uns nun aber wohl die befremdete Frage entgegen, ob denn
wirklich die Zeit um 1800 einer kirchlichen Reformation und eines kirchlichen Re
formators bedürftig gewesen sei? Mitten in der classischen Entwickelung unserer
Litteratur und besonders unserer Philosophie und Poesie befinden wir uns ja nemlich
um diese Zeit, in den Decennien, denen die Wirksamkeit Lessings und der Kantischen
Philosophie unmittelbar vorhergegangen ist, die uns Göthe und Schiller in vollendeter
Dichtergrösse zeigen, Fichte in dem rastlosen Bemühen um ein schlechthin selbst
ständiges Wissen und Wollen und ihm zur Seite auch Schelling schon, mit dem
Anspruch auf unmittelbares Ergreifen der vollkommenen Wahrheit und des höchsten
Wesensgrundes durch absolute Anschauung derselben, als des in allem Daseyn sich
entwickelnden Urseyns, während zugleich Friedrich Heinrich Jacobi die Behauptung
einer selbstständig und unmittelbar im menschlichen Geiste und Gemütli gegebenen
Gewissheit der in der Idee des persönlichen Gottes concentrirten sittlich religiösen
Grundwahrheiten schon von den Zeiten Lessings her unermüdlich geltend macht, Herder
aber den Schatz seiner vielseitigen Kenntnisse, die Fülle seiner geistvollen poetischen
Anschauung, die rhetorische Kraft und Bildung seines Stils, als evangelisch-christlicher