Full text: (Band XV.)

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Provinzen und Völker ihren Genius; ja selbst Locale, in denen ein reger Verkehr wogte, 
wie Strassen, Märkte, Thore, Bäder, Theater, und andre, die durch idyllischen Reiz 
und landschaftliche Stimmung zum Verweilen einluden, oder wohlbestellte Aecker, 
üppige Triften, waren durch das Symbol der Schlange ihrem Genius empfohlen uud 
vor störendem Frevel geschützt. 
Je blühender und reicher das Leben, desto angesehener der Genius. Daher 
vor Allen geehrt der Genius der Stadt Rom und des Römischen Volkes. Er besass 
einen Tempel und hat auch auf Münzen eine typische, Majestät und üppige Kraft aus 
drückende Gestalt angenommen, die eines bärtigen Mannes mit Diadem, in der Rechten 
ein Füllhorn, in der Linken das Scepter tragend; später ein Jüngling mit dem Frucht- 
rnaass auf dem Kopf, eine Schaale in der Rechten, das Füllhorn in der Linken. 
Allen Affecten des menschlichen Herzens sind diese Genien mitunterworfen: 
sie zürnen dem, der sie verletzt, lieben sich gegenseitig oder lehnen sich gegenein 
ander auf, denn einer ist mächtiger als der andre. Von dem Genius Octavian’s 
fühlte sich der des Antonius gedrückt, in seiner Gegenwart wurde er unwillkührlich 
kleiner. Darum rieth jener aegyptische Priester dem Antonius, die Nähe Cäsars zu 
meiden und bei der Kleopatra seinen Genius,zu pflegen. Und als die italischen Bundes 
genossen sich trotzig gegen die Zwingherrin Roma erhoben, da stellten Münzen der 
empörten Italia ihren Genius gepanzert mit Schwert und Lanze dar, den Fuss auf ein 
am Boden liegendes Römisches Feldzeichen setzend. 
Als nun aber durch Augustus die Alleinherrschaft in Rom begründet war und 
man sich beeiferte, auf ihn, als den Erretter und zweiten Begründer des Reichs, alle 
'Bürgschaften der öffentlichen Wohlfahrt zu vereinigen, erhob sich sein Genius so weit 
über alle anderen, dass er an allen Ecken der Römischen Strassenquartiere neben den 
Laren, und bald über die Stadt hinaus in den Provinzen als gemeinsamer Hort ver 
ehrt wurde, auch nach dem Tode des Kaisers, da er ja ein verklärtes Leben bei den 
Oberen weiterführte. Und diesem Beispiel folgend machten auch die Genien seiner 
Nachfolger, nur zu oft zum Hohn des gemisshandelten Volkes, den gleichen Anspruch, 
besonders an den kaiserlichen Geburtstagen, deren Feier durch Opfer, Spiele und Fest 
mahl eine regelmässige wurde. 
So wimmelte Rom und die Römische Welt von Genien, mächtigen wie schwachen; 
und der gelehrte Varro, der den populären Glauben seiner Landsleute mit der philo 
sophischen Lehre von den Dämonen verband, erklärte, obwohl nicht ganz im Ein 
klänge mit dem ursprünglichen Begriff, auch den Genius für die vernünftige Seele, die 
Intelligenz jedes Einzelnen und jeder Gesammtheit, und über Alle setzte er einen 
Universalgenius, die Weltseele. Und so dürfen auch wir, ohne in das Heidenthum 
zurückzufallen, was immer Leben und Gedeihen im Kleinen wie im Grossen schafft, 
als Ausfluss oder Abglanz jener himmlischen, im Geiste geborenen und zeugenden Kraft 
verehren. Es ist derselbe Geist, den unser Dichter in sich fühlte, als er sang: „den
	        
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