Weit mehr noch als der im Ganzen leichtgesinnte, sich selbst vertrauende
Grieche bedurfte der ängstlich bedächtige Bauerncharakter des Römers, um des Er
folges sicher zu gehn, auf Schritt und Tritt eines behütenden und fördernden Blickes
von oben. Wie er jeden Akt des irdischen Lebens vom ersten Keime der Existenz
bis zum letzten Odem unter die Obhut eines besondern höheren Wesens zu stellen
beflissen war, so vertraute er das gesammte Leben des Einzelnen seinem individuellen
Genius an, den vom Zeugen und Schaffen so benannten Lebensprincip, welches
schöpferisch und beseelend den ihm zugewiesenen Menschen aus dem Schooss der
Mutter einführt in die Welt, seine Kraft weckt und auf allen Wegen als treuer Pä-
dägog bis zum Erlöschen begleitet. Immer ist er gut, die Quelle aller guten Gaben,
vor Allem der Gesundheit des Geistes wie des Körpers. Die Stirn, des Geistes Schwelle, *
ist ihm geweiht; zu ihm betend berührt man sie. Bei ihm schwört, den Andern be
schwört man bei dem seinigen. Wie den eigenen verehrt man den Genius eines ge
liebten Freundes, eines Gönners und Wohlthäters, zumal an dem Tage, da er das
Leben des Einzelnen schuf: ihm opfert man dann unblutige Gaben, Blumen, Salben
und eine Spende ungemischten Weines, wie sie auch an griechischen Gelagen dem
guten Dämon zu Theil ward; denn dem Lebenspender darf nichts Lebendiges zum
Opfer fallen. Willkommen ist ihm Alles, was Kraft und Schwung des Lebens nährt
und erhöht. Den Genius pflegt, wer sich’s leiblich und geistig wohl sein lässt, ihn be
trügt um sein Recht, wer kärglich lebt und sich die Bissen vom Munde spart. Genial
ist alles Lebenweckende, alle heitere Fülle, der freigebige Gastfreund, der Winter wegen
des geselligen Wohllebens, das er mit sich führt, genial sind Bacchus und Ceres,
beste und Kränze, alle vier Elemente wegen ihrer Schöpfungskraft, Sonne, Mond und
die zwölf Himmelszeichen, an denen das Leben hängt.
Unzertrennlich von seinem Schutzbefohlenen ist er, der Göttersohn, dessen
eigenstes Ich, seine Individualität, aber nur den Männern zugesellt. Die Weiber haben
jede ihre Juno, das Princip des ewig Weiblichen. Im gewöhnlichen normalen Leben
sieht den Genius kein sterbliches Auge, so wenig wie der Gesunde, Unbefangene sein
Herz schlagen hört. Nur als Vorbote verhängnisvoller Schicksale erscheint er wohl
bedeutenden Männern, dem Brutus, wie dem Cassius, auch dem Kaiser Julian, der an
den gestürzten Göttern noch hing, in düstrer, entsetzter Gestalt kurz vor ihrem Tode,
letzterem auch verschleiert mit dem Füllhorn vor seiner Erhebung auf den Thron.
Da aber keine Gemeinschaft der Menschen des frischen zuströmenden Lebens
entrathen kann, so hat jedes Haus, jede Familie ihren Genius, der unter dem Symbol
der erdverwandten Schlange, eines darum in Rom beliebten Hausthieres, gepflegt, als
dämonischer Vater des Geschlechts dessen Erhaltung und Fortpflanzung, den Segen
der Ehe unter seinem Schutze hegt; so haben ferner Collegien, Zünfte, Corporationen,
Bürgergemeinden und Legionen, Städte, zumal lebhafte Hafen- und Handelsstädte,