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der göttlichen Weltordnung, und dem Leben, worüber sie herrschen und wodurch sie
erfüllt werden soll. Die göttliche Weltordnung ist nach dieser Auffassung ohnmächtig
das persönliche Leben zu durchdringen, und die vollendete Persönlichkeit kraftlos
ein Gemeinethos, ein sittliches Reich zu gründen. Dieser Zerfall des subjectiven und
objectiven Ethos soll durch die Lostrennung des Menschen von Gott, durch den Sünden
fall bewirkt sein. Zur Ergänzung des Defectes der sittlichen Welt dienen Recht und
Staat, welche die göttliche Weltordnung aufrecht erhalten, aber doch auch nicht po
sitiv zu erfüllen vermögen, sie verhindern nur, dass sie sich nicht in ihr Gegentheil
verkehrt. ‘) Staat und Recht erscheinen hiernach nur als Nothbehelfe der sittlichen
Welt, um ihren Defect einigermaassen zu ersetzen.
Diese Erneuerungen des antiken und des mittelalterlichen Standpunktes in der
Politik durch Hegel und Stahl entsprechen aber ebenso wenig dem politischen Be
wusstsein der modernen Völker, welches einen grösseren Raum der persönlichen Frei
heit fordert als jene Staatsbegriffe zulassen , als den Forderungen der Wissenschaft,
welche die sich stets erneuernde T hats ache des Sündenfalls wohl als eine Thatsache
erkennen, sie aber nicht als einen allgemeinen Begriff für wissenschaftliche Construc-
tionen verwenden darf, da ohne Zweifel durch einen solchen Missbrauch nur ein
Zerrbild entsteht. Denn diese seit Schelling übliche Manier die Thatsache des
Sündenfalls als einen allgemeinen und nothwendigen Begriff zu behandeln, verdirbt
alle wissenschaftliche Erkenntniss, welche nicht auf der Confündirung von Thatsachen
und Begriffen, sondern auf ihrer Unterscheidung ruht.
Neben diesen beiden Richtungen, welche den antiken und den mittelalterlichen
Standpunkt innerhalb der Entwicklung der deutschen Philosophie für die Auffassung
des politischen Lebens der Völker erneuern^ geht eine dritte Richtung, welche ebenso
sehr die Forderungen des politischen Bewusstseins der modernen Völker als die For
derungen der Wissenschaften zur Anerkennung zu bringen bestrebt ist, und die in
den Schriften der oben genannten Männer ihren Ausdruck findet. In allen drei
Richtungen herrscht aber doch dasselbe Streben die Politik als eine ethische Wissen
schaft auszubilden wie dasselbe durch den Entwicklungsgang der deutschen Philosophie
seit Kant und Fichte bedingt ist.
II.
Volk und Staat.
Die Voraussetzung und die natürliche Grundlage des Staats ist das Volk.
Staat und Volk gehören zusammen. Der Staat ist im Volke schon von Natur vor-
') Stahl a. a, O. B. 2. Abthl. 1. S. 191, u. f.