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sittlichen Welt sieht man also eine Incommensurabilität zwischen Mittel und Zweck,
Staat und Kirche, weltlichem und religiösem Leben, zwischen den sittlichen Subjecten
und ihren Objecten, die Subjecte selbst sind in sich gespalten in ein weltliches
und nicht weltliches Leben, von denen keins den Endzweck zu verwirklichen genügt
und die Person ganz erfüllen kann. Nur in einem Punkte stimmen Staat und Kirche
überein, da beide aufgefasst werden als göttliche Institute für die Erziehung des
Menschengeschlechts. Darin spricht sich überhaupt die höhere und umfassendere An
sicht der christlichen Philosophie aus, dass sie nicht nur überall eine allgemeine, das
ganze Menschengeschlecht umfassende Geschichte, sondern darin auch einen Plan an
nimmt, nach welchem der göttliche Wille die Völker und ihre Geschicke lenkt. Die
Auctorität des göttlichen Willens gilt als das Princip der sittlichen Welt, weshalb
die Rechts- und Staatsansichten dieser Zeit vorherrschend theocratisch sind.
An die Stelle des Gegensatzes von Staat und Kirche tritt in der neueren
Philosophie der Gegensatz von Recht und Moral, der dem griechischen Bewusstsein
völlig fremd ist, hier aber in gleicher Weise die gesammte Anschauung über das
menschliche Leben beherrscht, wie der Gegensatz von Staat und Kirche im Mittel-
alter. Der Staat wird aufgefasst einerseits im Gegensätze zu dein fingirten Natur
zustände des Menschen, andererseits als Rechtsanstalt im Gegensätze zur sittlichen
Welt, so dass Staat und Recht gleichsam in einem Zwischenreiche liegen zwischen
der physischen und der sittlichen Welt. Der Gegensatz von Recht und Moral, der
die Denkweise beherrscht, ist aber nur nach seinem einen Gliede positiv, nach dem
andern aber nur negativ bestimmt. Staat und Recht bilden die Position, die sittliche
Welt aber nur eine Negativität, denn ihr gehört nur Alles das an, was von dem Ge
biete des Rechts und des Staats im menschlichen Leben ausgeschlossen ist. Der Na
turalismus kennt nur einen negativen Begriff von der sittlichen Welt. Ihr gehört
Alles an, was nicht durch die Zwangsmacht des Rechtes und seiner Anstalt, des
Staats, erwirkt werden kann. In dem wirklichen Leben, das die Menschen alltäglich
und in der Gemeinschaft führen, gebietet absolut und ausschliesslich das Recht und
der Staat, nur in dem mehr occulten und vereinsamten Privatleben, dessen Sphäre
sich aber nicht bestimmen lässt, herrscht die negative Sittlichkeit. Die Staats
und Rechtslehre gelten daher auch nicht mehr als ethische Wissenschaften, sondern
als von dem Reiche der übrigen Wissenschaften abgesonderte Disciplinen, welche in
dem längstvergangenen Naturzustände und der Willkür der Menschen ihre besondere
Grundlage haben. Die antimoralische Richtung des Naturalismus bewirkt es, dass
man Recht und Staat wie Naturerzeugnisse ohne ethische Bestimmung und als Objecte
der Willkür einer beliebigen Menge von Menschen in ihrer isolirten Singularität auf
fasst. Da man in dieser Richtung keine sittliche Endzwecke als immanente und con
stitutive Principien des Lebens, deren Existenz oder Erkennbarkeit man schlechthin
in Frage stellt, anerkennt, so tritt an ihre Stelle die Betrachtung der Zweckmässigkeit,