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der Menschheit der Fall gewesen sei, in der Wirklichkeit aber waren diese allgemeinen
Naturgesetze nicht nachweisbar und sah man sich daher genöthigt das geschichtliche
Leben der Völker als aus der Willkür der Menschen entstehend anzunehmen. Der Will
kür als einem Erklärungsgrunde wollte man entgehen, indem man sich bemühte Alles
auf die Natur zurückzuführen und als ein nach allgemeinen Gesetzen nothwendig Ge
schehendes zu begreifen, verfiel aber um so vielmehr in die Erklärungsart aus der
Willkür, als das geschichtliche Leben der Völker in Rechts- und Staatsbilduim aus
blossen Naturgesetzen sich nicht erklären lässt und man doch keine andere Gesetze
glaubte annehmen zu können. Die antimoralische Richtung des Naturalismus bewirkte
es, dass er in der That Alles aus der Willkür der Menschen hervorgehen lässt, ob
gleich sein Streben dahin geht, Alles als ein nothwendig Geschehendes, als Natur-
erzeugniss zu begreifen.
Es geschieht aber in der Welt nicht Alles nach allgemeinen Gesetzen noth
wendig, sondern Einiges geht, wenn auch nicht aus der Willkür, so doch aus der
Freiheit hervor, welche nach Endzwecken handelt und nach Gesetzen thätig ist, die,
individuelles und persönliches Leben in sich umfassend, nirgends in einerlei Weise,
sondern in manigfaltigen Modifikationen verwirklicht werden. Dies Leben gehört aber
nicht der Natur, sondern der Geschichte und der sittlichen Welt an. Es kann daher
auch nicht wie ein Naturphänomen aus den ersten Keimen des Daseins, dem imam-
nirten Naturzustände der Menschheit, und äusseren Ursachen, die nach allgemeinen Ge
setzen stets dieselbe Wirklichkeit erzeugen, begriffen werden, sondern wird nur erkannt
aus Endzwecken des Geschehens und aus Willenskräften, welche nach Gesetzen
thätig sind, die in verschiedener Weise sich vollziehen. Das Suchen nach allgemeinen
Naturgesetzen für das Leben der Völker in ihren Staatsbildungen wie in den übrigen
Erzeugnissen derselben, ist der Irrweg des Naturalismus, da die Gesetze für dieses
Leben keine physische, sondern ethische sind. Die Völker zeigen in ihren Staats
bildungen überall ihre Individualität, ja wenn man will, ihre Persönlichkeit. Das
politische Leben der Völker stimmt wohl in allgemeinen Zügen der Formen und
Einrichtungen des Staates mit einander überein, in der That aber ist es ein individuell
verschiedenes. Wenn es dafür ein allgemeines Gesetz geben soll, so kann es nur ein
solches sein, welches individuelle und persönliche Verwirklichung einschliesst. Gesetze
aber, welche in abweichenden Modifikationen sich vollziehen, sind keine physische,
sondern ethische. Solche Gesetze setzen Freiheit voraus, die ihr Ziel nicht bloss ver
fehlen, sondern auch verschiedenartig treffen kann. Die Freiheit ist der Grund indi
vidueller Gesetzesvollziehung. Was der Naturalismus als Willkür erklärt, weil er nur
nach allgemeinen Gesetzen nothwendig Geschehendes kennt, besteht nur in der durch
die Freiheit selbst begründeten individuellen Vollziehung ihrer Gesetze. Da das ge
schichtliche Leben der Völker in allen seinen Formen Individualität und Persönlich
keit zeigt, wird dadurch auch bewiesen, dass demselben Freiheit zu Grunde liegt, denn