Theodor Claufsen
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ist die Wiedergabe von gr. v durch lat. u, wie das Romanische er
kennen lässt, im Vulgärlatein so häutig, dass Gröber in den vulgär
lateinischen Substraten sie geradezu als ein Kriterium für Volkstüm
lichkeit der betreffenden Wörter im Latein ansehen konnte, und mit
Recht. Auf die Anführung von Beispielen können wir um so eher
verzichten, als die Tatsache längst bekannt ist, vgl. M.-L. Gr. I § 17
S. 30, it. Gr. § 16, Einf. S. 96, H.-D. Traite § 496 S. 162. Den
Grund, warum das gr. v im älteren Latein meist als u erscheint, hat
Diez (Gr. S. 139) noch nicht richtig angegeben: Es lag nicht daran,
dass die Römer „ü als u auffassten und behandelten“, sondern daran,
dass die Griechen, mit denen sie in der ältesten Zeit in Berührung
kamen, d. h. die Griechen Unteritaliens, Siziliens u. s. w., wenn auch
nicht ausschliesslich, so doch vorzugsweise Angehörige der griechischen
Stämme waren, die den ursprünglichen Lautwert des gr. v, d. i. u,
bewahrt hatten. Wir möchten diese zuerst von M.-L. Gr. I § 17 S. 30
ausgesprochene Auffassung etwas näher beleuchten: Man vergegen
wärtige sich, dass in dem Kranze griechischer Kolonien, der Rom um
gab, die der Dorer an Zahl und Bedeutung weit über die anderen
hervorragten. Dorische Pflanzstätten waren Corcyra, Leucas, Anacto-
rium, Ambracia, Oricum, Apollonia, Epidamnus u. s. w. an der
Küste von Epirus — ungefähr aus derselben Gegend stammt ja auch
der Name ,Graeci‘ (vgl. § 1,8), ein Beweis, dass hier in alter Zeit eine
nachdrückliche Berührung zwischen Griechen und Römern stattge
funden hat — dorische Kolonie war die grösste und mächtigste Handels
und Fabrikstadt Grossgriechenlands, Tarent, dorisch waren Heraclea
und Hydruntum, ferner auf Sizilien Syracus, Megara Hyblaea, Selinus,
Gela, Agrigent u. s. w. Zwar fehlte auch das ionische Element nicht
(Cumae, Regium u. s. w.); dessen kolonialer Schwerpunkt lag aber
anderswo, im ägäischen Meer, auf der Chalcidice und an der Küste
Kleinasiens. Die Römer trafen in der älteren Zeit also hauptsächlich
mit Dorern zusammen, d. h. Leuten, die das v wie u sprachen. Be
kanntlich lassen auch anderweitige Kriterien erkennen, dass die ältesten
griechisch-lateinischen Lehnwörter meist dorischen Ursprungs sind
(Stolz § 5 S. 7); ein Wegweiser in dieser Beziehung ist namentlich
das dem Dorischen eigentümliche « (für ion.-att. rj); ja, es lässt sich
behaupten, dass man diesen Faktor bei der Aufstellung romanischer
Etymologien bisher schwerlich genügend in Betracht gezogen hat, wie
wir an einzelnen Beispielen im zweiten Teile der Arbeit nachzuweisen
gedenken (vgl. übrigens auch § 17,6). Hier kam es uns darauf an,
den historischen Zusammenhang für die Wiedergabe des gr. v durch
lat. u aufzuzeigen, weil man noch immer der Anschauung begegnen
kann, als sei dies lat. u eine „ungenaue“ Darstellung des griechischen
Lautes, die gewählt worden sei, weil die Römer keine vollkommenere