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währen, nicht entsprechen, doch steht er nicht an, ihn durch den
hinterlassenen Zettel vor der Welt zu rechtfertigen und sogar
die Einwilligung zu einer Verbindung desselben mit seiner Tochter
zu geben, wenn er selbst durch dessen Hand fallen sollte. —
Durch diese veränderte Charakterzeichnung hat Cibber erreicht,
daß der Zuschauer Gormaz’ Tod nur mit einem gewissen Mitleiden
aufnehmen kann, nicht wie bei Corneille in dem Bewußtsein, daß
ihn die verdiente Strafe getroffen habe. Damit hat er zugleich
den glücklichen Ausgang des Stückes einigermaßen vorbereitet.
Für das Lustspiel wäre Cibbers Gormaz eine ganz passende Figur;
tragisch kann er nie wirken.
5. Sanche-Sanchez.
In der Charakterzeichnung des Sanchez ist Cibber selbständig
vorgegangen. Bei Corneille spielt Sanche eine Rolle von recht
untergeordneter Bedeutung. Der Dichter führt ihn hauptsächlich
ein als Gegenspieler der Infantin; beide repräsentieren die un
glücklich Liebenden des Stückes. Zugleich aber soll er den
Charakter Chimenens heben, die es verdient, von mehreren begehrt
zu werden. Der Sanche des „Cid“ entwickelt sich aber nicht,
sondern bleibt durch alle 5 Akte hindurch der, „gallant homme.“
Er ist der Rivale Rodrigos, aber ein durchaus edler Charakter,
der sich durchaus keiner unehrlichen Handlungsweise schuldig
macht, um den Sieg über ihn davonzutragen. Kühn fordert er,
der Waffenungeübte, den Besieger der Mauren zum Zweikampf.
Ebenso unerschrocken zeigt er sich dem König gegenüber, als
dieser, erregt über den Ungehorsam des Gormaz, sein Mißfallen
ausspricht: Sancho allein ist es, der den Mut hat, ihn zu ver
teidigen und darauf hinzuweisen; daß es eines freien Ritters
unwürdig sei, sich einem fremden Willen zu beugen. Seine
Liebe zu Chimene scheint freilich recht eigener Art zu sein;
denn schnell genug tröstet er sich über ihren Verlust, ja er kann
es nicht einmal beklagen, im Kampfe gegen Rodrigo unterlegen
zu sein, da er durch seine Niederlage beigetragen habe, eines
andern Liebesglück zu gründen:
„Pour moi, bien que vaincu, je me repute heureux;
j’aime encore ma defaite
Qui fait le beau succes d’une amour si parfaite“ (v. 1759 ff.)
In durchaus anderem Lichte erscheint Sancho in „Ximena“.