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gar den Haß des Alvarez gegen ihren Vater Gormaz zu bezwingen.
Bescheidene Zurückhaltung, echte Weiblichkeit ziert sie, doch damit
paart sich feste Entschlossenheit. Wie schwach sie in ihrer Liebe
erscheint, so stark wird sie, als es gilt, ihre Ehre zu rächen.
Edle Leidenschaft und tiefes Gefühl für Kindespflicht lassen sie
kühn aus ihrer mädchenhaften Schüchternheit heraustreten. Höher
noch als die Liebe gilt ihr die Ehre; ihr einziger und höchster
Stolz ist es, nicht geringer zu erscheinen, vor allem nicht geringer
zu empfinden als er, den sie liebt, um ihm völlig ebenbürtig zu
sein. Ihr ist es darum auch nicht genug, sich von Carlos als
dem Mörder ihres Vaters abzuwenden und sich nach dem doppelten
Verluste in Weltabgeschiedenheit ihrem Schmerz hinzugeben. Fest
tritt sie vor den König, ihre Rache zu fordern; nicht durch Ver
sprechungen, nicht durch Vertröstungen läßt sie sich abfinden,
nicht durch Aufschub ihre Leidenschaft schwächen. Inständig und
immer von neuem fordert sie ihr heiliges Recht. Ist nun also
ihr Gefühl für Carlos erloschen? Nein! Daß gerade seine Hand es
war, die ihr den Vater erschlug, das ist der Stachel, der ihre
Brust zerreißt und jede ruhige Entsagung ihr unmöglich macht.
Mit welcher Heftigkeit und Gewaltsamkeit spornt sie sich selbst
immer wieder zur Verfolgung! Dies zeigt, wie untrennbar von
ihrer Kindesliebe die tiefe und edle Leidenschaft für den Geliebten
ist. Wohl will sie ihn verfolgen, aber nicht sein Henker werden.
Alles will sie für ihre Sache tun, und doch heftet sich an diese
Beteuerung das unwillkürliche Geständnis:
„I teil thee, tho’ I prosecute thy Fate,
My secret Wish is, that my Cause may fail me.“ (v. 1420 f.)
Wenn aber die Sache doch gelingen sollte, so will sie sich selbst
den Tod geben. Und als Carlos dann siegreich vom Kampf mit
den Mauren heimkehrt, wie strahlt sie da nicht vor Stolz und
Bewunderung über seine vollbrachten Heldentaten! Aber unent
wegt folgt sie ihrer Pflicht. Erst als Carlos ihr andeutet, daß er
im Zweikampf mit Sancho freiwillig den Tod suchen will, da
kann sie die Bitte nicht länger zurückhalten, daß er sein Leben
schonen möge, um das ihre zu erhalten. Nun verbirgt sie ihr
wahres Gefühl nicht länger, und schamhaft fügt sie hinzu:
O Carlos! guard thy Life and save Ximena! (v. 1896.) Noch
einmal kommt die ganze Glut ihrer Leidenschaft zum Ausdruck,
als das Erscheinen Sanchos nach dem Zweikampf mit Carlos in