112 II. Das Mittelalter. E. Das erste Interregnum.
Der Sitz dieses Gerichtes nämlich blieb stets die „rote Erde";
nur auf ihr konnte geurteilt werden; vorladen hingegen konnten die
Freischöffen jedermann, er mochte sein, wo er wollte, und die Ur
teile der Femgerichte konnten überall vollzogen werden. Der Frei- >
graf mußte ein Westfale sein; ihm standen bei einer Gerichtsver
handlung sieben Schöffen zur Seite. Ankläger konnte nur ein Frei
schöffe sein. War der Angeklagte auch ein solcher, so wurde er vor
die heimliche Acht geladen; dagegen mußte die Ladung eines Nicht-
wissenden vor das offene Gericht geschehen; nur wenn er der
Ladung nicht Folge leistete, verwandelte sich das öffentliche Gericht
in ein geheimes. Während den öffentlichen Gerichtsverhandlungen
jedermann ungehindert beiwohnen konnte, mußten sich, sobald das
Gericht in ein geheimes verwandelt wurde, alle Nichtwiffenden bei
Todesstrafe entfernen.
Die Ladung vor die geheime Acht wurde schriftlich durch zwei
Freischöffen besorgt, und zwar auf eine Frist von sechs Wochen und
drei Tagen. Leistete er nicht Folge, so luden ihn vier Freischöffen,
und wenn auch dies erfolglos war, sechs Frcischösien und ein Frei
graf. Die Ladung Nichtwiffender geschah bloß durch den Fronboten.
War der Aufenthaltsort des Schuldigen unbekannt, so wurden vier
Vorladungen ausgefertigt und an vier Orten, wo er sich möglicher
weise befinden konnte, angeheftet. Wenn die Macht des Angeklagten
zu fürchten war, so wurde die Vorladung nachts an das Thor der
Burg oder der Stadt, wo er sich befand, befestigt. Die Schöffen be
gaben sich dann heimlich vor das Thor, hieben drei Späne heraus
und steckten die Vorladung in die Kerbe (daher noch jetzt das Wort
„Steckbrief").
War der Tag des Gerichtes da und der Geladene nicht er
schienen, so fragte der Freigraf, ob jemand ihn verteidigen wollte.
War das nicht der Fall, so wurde das Urteil gesprochen, indem
einer der Freischöffen knieend zwei Finger der rechten Hand auf das
vor dem Freigrafen liegende bloße Schwert legte, die Schuld des
Angeklagten beteuerte und sechs Freischöffen („Ei des Helfer") die
Wahrheit seiner Aussage eidlich bekräftigten. War der Beklagte
anwesend, so konnte er mit sechs Eideshelfern aus der Zahl der
Freischöffen seine Unschuld darthun. Der Kläger bedurfte dreizehn
Eideshelfer, um mit diesen die Anklage wieder aufzunehmen, und
nun mußten zwanzig Freischöffen dem Angeklagten helfen, um sich
endgiltig von der Schuld loszuschwören. War es ihm nicht ge
lungen, seine Unschuld zu beweisen, so stand der Freigraf auf und
„verfemte" ihn, indem er ihn für „echtlos, rechtlos, siegellos und
friedlos" erklärte, seinen Hals dem Strick weihte, seinen Leichnam
den Vögeln und Tieren zu verzehren gab, seine Seele Gott, sein
Lehen dem Lehnsherrn befahl, sein Weib als Witwe, seine Kinder