I. Stufe. Quellen geschichtlichen Sinns. Latein,
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glauben, dass wir für unsere ferneren Betrachtungen dadurch den rich
tigen Ausgangspunkt gewinnen. Wir gehen dabei vom Gymnasium, der
Lateinschule, aus.
I. Vorstufe.
(Sexta und Quinta.)
Wenn wir eigentlichen Geschichtsunterricht für diese Alters- oder
Klassenstufe noch ablehnen, so ist doch der ihr dargebotene Unterrichts
stoff gerade unter dem Gesichtspunkt historischer Bildung, Bildung des
Geschichtssinnes, geschichtlichen Wahrheitssinnes ausserordentlich wichtig.
Es sind 3 Hauptquellen, aus denen dieser Bildungsstoff den Gymnasial
schülern dieser untersten Stufe zuströmt: der lateinische, der deutsche
und der Religionsunterricht.
Es ist merkwürdig, dass man den lateinischen Unterricht fast
niemals unter diesen Gesichtspunkt bringt und doch ist die Sache, sobald
man sie einmal ausgesprochen hat, sonnenklar. Die erste Vorbedingung
geschichtlicher Auffassung ist die Fähigkeit, eine Vergangenheit als Gegen
wart zu denken oder zu empfinden: eine vergangene Volksgeschichte —
Leben, Thaten, Besitztümer, Empfindungsweisen eines dahingeschiedenen
Volkes aber sind Gegenwart in seiner Sprache und darum wirkt jede
fremde und namentlich jede vergangene fremde Sprache mit so grosser
Stärke auf jedes menschliche und auch schon auf ein kindliches Gemüt.
Man hat sich den Sinn für diese in der Tiefe wirkenden Kräfte, die
allerdings nicht sofort in greifbaren Wirkungen zu Tage treten, einigermassen
verbaut durch die vielgebrauchte Redensart von der formalen Bildung — der
bildenden Bildung — des Lateinischen, während doch die Erlernung der
Sprache eines Volkes, das uns wie das römische zugleich unendlich fern und
wiederunendlich nahe steht, ganz von selbst auch schon dem 9jährigen Knaben
sehr viel mehr bietet, als jener Ausdruck sagt, selbst wenn wir unter
formal etwas Tieferes — die Fähigkeit, das zerstreute Einzelne unter Ein
heiten, Begriffe, Regeln zu sammeln verstehen. Es erscheint uns für den
Gesamtorganismus der Gymnasialbildung ganz wesentlich, dass in dieser
Sprache nichts trivial, alles Wissenschaft — Wissenschaft auch für den
kindlichen Verstand — ist, qnd zwar dies aus dem einfachen Grunde,
weil in jedem lateinischen Worte, das ins Deutsche übertragen wird und
umgekehrt, Geschichte, geschichtliches Leben steckt. Es ist nicht anders
und wenn es nur erst mensa rotunda est wäre; das Volk, das vor ein paar
tausend Jahren diese Sprache redete, hatte runde Tische, sella Sessel, pla-
centa Kuchen u. s. w., es redete seine Söhne mit mi fili an: es ist für den
aufmerksameren Beobachter ganz unzweifelhaft, dass das grössere Interesse,
welches der Knabe — sofern er überhaupt anregungsfähig ist — der la
teinischen Sprache gegenüber einer neueren entgegenbringt, eben hierauf
beruht. Es ist auch für den Erwachsenen nicht dasselbe, ob er im nächsten
Laden einen schönen Krug aus einer renommierten Fabrik oder ob er eine
mit einer rohen Inschrift versehene römische Trinkschale, die eben aus der
Erde gegraben ist, betrachtet. Die Trinkschale ist vor zweitausend Jahren
ebenso trivial gewesen, wie jetzt der schöne Krug, der in einem Dutzend