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Fast über allen Zweifel erhaben schien die trophoneurotische
Genese der tabischen Knochenbrüche durch die zuerst von Pitres
und Vaillard gefundene Tatsache, daß sich in Fällen von Tabes,
in denen sich die Anästhesie und die „trophischen Störungen“ nur
auf die eine untere Extremität beschränkten, auch die periphere
Degeneration vornehmlich nur die Nerven dieser Extremität betraf
und daß in einzelnen Fällen, die mit Gelenkveränderungen bezw.
Spontanfrakturen einhergingen, die zu den Gelenken und Knochen
ziehenden Nerven ausgesprochene Degenerationserscheinungen boten.
Durch diese Untersuchungen, die gleichzeitig auch Siemerling
und Oppenheim angestellt, hat die Anerkennung der neuropathi-
schen Theorie wesentlich den Boden gewonnen, obwohl die Ent
decker jener peripheren Nervendegenerationen, wenigstens Siemer
ling und Oppenheim, keineswegs diese Befunde in einen sicheren
kausalen Konnex mit den tabischen Arthropathien und Spontanbrüchen
zu bringen beabsichtigten. Sie weisen vielmehr gleichzeitig auf die
schon früher bekannte Tatsache hin, daß auch bei einer großen Anzahl
von anderen chronischen Krankheiten derartige Nerven Veränderungen
Vorkommen; zahlreiche Untersuchungen, die sie an Leichen von Indivi
duen angestellt, welche an chronischer Tuberkulose, Inanition, senilem
Marasmus, Arteriosklerose, Alkoholismus, Carcinom, Hirntumor usw.
nach längerem Bestände dieser Leiden zugrunde gegangen, bestä
tigten diese Tatsache. Auch heben beide Autoren ausdrücklich hervor,
daß es sich nicht entscheiden lasse, ob die tabischen Gelenk- und
Knochenerkrankungen lediglich durch die tiefe Anästhesie hervor
gerufen werden, oder ob sie trophischen Einflüssen ihre Entstehung
verdanken. Trotz der nachgewiesenen weiten Verbreitung einer
peripheren Nervendegeneration im Gefolge chronischen Siechtums
und chronischer Intoxikationen und Infektionen hat sich der Irrtum
einer spezifischen Bedeutung derselben für die tabesclien Gelenk-
und Knochenerkrankungen bis in die neueste Zeit erhalten. So
führt Raviart die an einem Tabiker bald nacheinander beobach
teten Spontanbrüche beider Oberschenkel auf eine periphere Nerven
degeneration zurück und spricht von einer Osteopathie nerveuse.
Selbst wenn man zugeben wollte, daß die bei Tabes vorkom
menden peripheren Nervendegenerationen anatomisch verschieden
von denen bei Alkoholismus, Arteriosklerose, Carcinomatose usw.
seien, so bleibt doch immer noch der exakte Beweis für die spe
zifische Bedeutung jener Nervenveränderungen zu erbringen. Denn
erstens treten diese Nervendegenerationen häufig auf, ohne daß sie
Veränderungen an Gelenken und Knochen im Gefolge haben und