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der Untersuchung der Gase Gebrauch von dem Recht, sich Bilder
zu konstruieren, die in ihrer Gewinnung von den Erscheinungen
beherrscht werden, welche die Natur bietet. Der Erfolg hat zu
oft zugunsten dieses Vorgehens gesprochen. So suchten die Physiker
sich zunächst durch den Mechanismus materieller Punkte die Vor
gänge in dem Gas zu veranschaulichen, ein deutliches Suchen nach
den primären Erscheinungskomplexen. Dieser zugrunde gelegte
Mechanismus ist aber ein großes Gesetz, eine große Relation,
von der nun erwartet wird, daß sie alle noch zu findenden speziellen
Relationen umfaßt. Jetzt beginnt die Deduktion. Der Physiker
lernt dieses große Gesetz in seinen Einzelheiten kennen und findet
nicht nur das Boylesche Gesetz als sekundäres Gesetz eines primären
und sekundäre Vorgänge als Folgen eines primären, sondern über
raschenderweise auch ganz neue Tatsachen a priori, die das
Experiment verwirklichen soll und muß, wenn nicht der primäre
Komplex fallen soll. Also die Deduktion ist doch nicht ein bloßes
zu Mehlmahlen; auch sie ist schöpferisch.
Wollte der Physiker durch ein solches Bild nur Bekanntes noch
„erklären" wollen, so betätigte er sich hier genau so unfruchtbar
wie der Ersinner von Gravitationshypothesen, zu dem wir nach
diesem Amweg wieder zurückkommen. Seine Hypothese aber leistet,
was eine berechtigte Hypothese leisten muß: sie führt über die
theoretische Ableitung hinweg zu neuen Experimenten, Erscheinungs
komplexen, Gesehen. Bekannt ist, daß Maxwell so die Anabhängig
keit der Reibung der Gase vom Druck berechnete 1 zum Staunen
aller Physiker, und daß die Bestätigung durch das Experiment
nicht ausblieb. An sich wäre ein solches Gesetz, theoretisch be
rechnet, ganz wertlos. Wer wäre wohl sicher, ob der Mechanismus
nicht so grobmaschig gewählt sei, daß auch Falsches mit hindurch
ginge?
Zum Äberfluß spottet auch die kinetische Gastheorie jeder Wahr
scheinlichkeit.^ Von ganz idealen Verhältnissen ging sie ursprünglich
aus, von punktuellen Atomen. Die gröbsten Gesetze stimmten in
dies Bild hinein. Wenn man nun nicht weiter forschte, würde
man nach Äartmannscher Methode auf einen der Eins fast gleichen
Wahrscheinlichkeitskoeffizienten kommen und über die Hypothese
' Siehe Oskar Emil Meyer, „Kinetische Theorie der Gase", 2. Aufl.,
S. 172-182.