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21. 2. 1906. Auf Wunsch der auf die Suicidgefahr
aufmerksam gemachten Frau wird Patient ungeheilt entlassen
Das beschriebene Krankheitsbild ist das einer Psychose
depressiven Charakters mit ausgesprochen hypochondrischen
Wahnvorstellungen. Um Paranoia handelt es sich nicht.
Der Kranke faßt seine Leiden als spontan entstanden auf,
er glaubt nicht, daß sie durch die Machenschaften irgend
eines Feindes hervorgerufen sind.
Die Krankheit gehört zur schwersten Form der Hypo
chondrie, denn zu den Empfindungsstörungen innerhalb der
verschiedensten Organe ist Nachlassen der Gedächtniskraft
und eine Reihe von Hallucinationen der höheren Sinnesorgane
getreten, wie das Hören von Gesang und das Flimmern vor
den Augen.
Bei der Schwere der Krankheit und der längeren unver
änderten Dauer ihres Bestehens ist die Prognose trotz der
gelegentlichen Remissionen durchaus ungünstig. Eine eigent
liche Gefahr für das Leben besteht zur Zeit nicht. Sie kann
aber jeden Augenblick drohen, sobald die Suicidtendenzen
des Patienten neu erwachen. Daher ist eine stete Beauf
sichtigung unerläßlich.
Bemerkenswert an unserm Fall ist, daß von all den
Umständen, die als wesentlich für das Entstehen der Hypo
chondrie angesehen werden, sich keiner nachweisen läßt.
Eine ererbte Anlage besteht nicht, der Alkoholgenuß bewegte
sich in mäßigen Grenzen. Ein Trauma hat nicht stattgefunden,
denn der vor vielen Jahren erfolgte Schlag auf den Kopf,
der seit seiner Heilung keinerlei Erscheinungen mehr auslöste,
kann nicht in Betracht kommen. Von einer vorausgegangenen
erschöpfenden Periode darf nicht die Rede sein. Der Mann
hat als Fischer einen gesundheitsgemäßen Beruf, der nicht
viel Aufregungen mit sich bringt und frei ist von großer
Monotonie, die den Grund für hypochondrische Wahnvor
stellungen bieten könnte. Häusliche Sorgen und Not
bedrückten den Patienten nicht: er hatte ein gutes Auskommen
und lebte in Eintracht mit seiner Frau und seinen Bekannten.