Full text: Über die englischen Marienklagen

Diese Einleitung könnte fast als Parodie auf die üblichen 
Romanzenanfänge erscheinen; sie könnte das munterste Bänkel 
sängerlied einleiten, und leitet eine Klage Mariae ohne jeden 
Übergang ein. W. (S. 34) spricht von gewissen Kreuzungen der 
dramatischen mit den erzählenden Lauden ; in letzteren „kann es 
geschehen, daß Maria versunken in die traurige Erinnerung während 
ihrer Erzählung Judas oder Johannes anredet, als ob ihr alles 
aufs neue lebendig würde“. Das Gleiche ist in vorliegendem Gedicht 
der Fall — nur springt Maria von jener Einleitung unvermittelt 
zu Anklagen gegen Judas und die Juden über (Str. 2—9) und 
schließt daran eine kurze Erzählung von den Wundern bei Christi 
Tode, von Auferstehung und Höllenfahrt (Str. 10—13); den Schluß 
bildet (ganz wie in engl. D, O; lat. II, III u. a. m. 1 )) eine 
kurze Anrufung Christi durch den Vortragenden. Ich möchte 
annehmen, daß dies Lied nach dem Vortrag eines Minstrels auf 
gezeichnet ist 2 ). Seinem Dichter kann man weder Geschmack 
noch Gemütstiefe zuerkennen. 
An originellen Gedanken ist auch nicht viel vorhanden. 
Daß die Anrede an Judas an die in T anklingt, bringt der Stoff 
mit sich. Von Details, deren Herkunft nicht bei unserem Dichter 
zu suchen sein dürfte, ist außer dem Refrain noch zu nennen: 
7, 7 spricht Maria: “now sonys gete y nevyr mo“ cf. lat. II Str. 
14: (. . . meurn filium . . .) jam non expecto alium, ut scripturae 
nuntiant und V. 918 f. des provenzalischen Ev. Nie. 3 ): filh ni 
filha may non ay, ni ja may filha non auray. Daß Jesus Marias 
einziges Kind gewesen, ist im Gegensatz zur Bibel katholisches 
Dogma, das ursprünglich wohl auf Mißverständnis des „unigenitus“ 
(seil. Dei) beruht (schon Augustinus, vgl. das Citat S. 3) 4 ). Dieser 
und der Gedanke des Refrains sind auch in V und dem jüngeren 
Wiegenlied ß, ersterer auch im Cursor Mundi (Y 24094) aus 
gesprochen, sowie im Monolog C. 
C, — Monolog in 5 Strophen von je 4 durch gleichen Reim 
') Vgl. auch den Schluß der ital. Lauden. 
2 ) Vgl. darüber i. a. Wright Percy Soc. 23. Intr. 
3 ) Ed. Suchier: Prov. Sprachdenkmäler I. Die Mkl. hier hat mit der des 
griechischen Ev. Nie. keinen Zusammenhang. 
4 j Ambrosius : „passionem unigeniti spectabat“, citiert bei Ermini a. a. O.
	        
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