V. Charaktere.
Die im allgemeinen richtige Behauptung, dass die Kopie fast
immer eine Herabsetzung des Originals bedeutet, wird durch einen
Vergleich der Shadwell’schen Charaktere mit ihrer Vorlage be
stätigt. Allerdings war es den englischen Dramatikern der da
maligen Zeit garnicht so sehr darum zu tun, ihre Charaktere zu
vertiefen. Die Zuschauer wollten nur leicht unterhalten sein. Man
liebte nicht, viel zu denken und setzte auch bei anderen keine
grossen Gedanken voraus. Die Hauptsache im Lustspiel waren
möglichst drollige, noch besser, recht zweideutige Situationen, und
recht alberne, schlüpfrige Reden. Durch die Rücksicht darauf
litt nicht selten die Wahrscheinlichkeit der Handlung und der
Charaktere. Taine sagt mit Recht: „Ils glissent ä la surface des
choses, ils n’y penötrent pas. — Tout ce plaisir reste ä fleur de
peau; on n’a rien du fonds naturel et de la vraie nature de l’homme;
on n’emporte aucune pensee; on a passe une heure, et voilä tout;
le divertissement vous laisse vide, et n’est pas bon que pour occuper
des soirees de coquettes et de fats“. Bei Moliere dagegen beruht
das Hauptinteresse auf der Seelenmalerei und Charakterdarstellung.
Wie hat nicht die herrliche Gestalt des Alceste unter der Hand
Shadwell’s an Würde verloren! Muss nicht jeder natürlich
empfindende Mensch für Moliere’s Alceste die höchste Begeisterung
empfinden und zugleich aufrichtigen Schmerz, wenn solch’ ein
edler Charakter sich durch eine leichtfertige Kokette betrügen
lässt? Die 'Grundstimmung seines Charakters ist Wahrhaftigkeit,
die offen Front macht gegen die Lügenhaftigkeit und Heuchelei
der Zeit. Überall wo er diese Schwächen findet,-* will er sie in
ihrer nackten Hässlichkeit dem Gespött preisgeben. Und dieser
Freimut ist kein leeres Salongeschwätz. Er beweist ihn auch in
der Tat durch die unbarmherzige Kritik, die er an dem elenden