85
Auch die Epen Lamartines erinnern in zahlreichen Einzelzügen
an Chateaubriands Atala. Das Zusammenleben Jocelyns und Lau-
rence’s in der Grotte des Aigles findet sein Seitenstück in dem
jenigen Chactas mit Atala in der Wildnis; in beiden Dichtungen
wird durch einen Eid die Katastrophe herbeigeführt, die hier wie
dort von der liebenden Jungfrau schon mit banger Furcht vor
geahnt wird. 216 ) Der Bischof im „Jocelyn“ ist wenigstens insofern
eine Wiederholung des rater Aubry, als ihm wie diesem um seines
Glaubens willen die H;inde verstümmelt worden sind, 217 ) und die
Schilderung der letzten Kommunion und Ölung, die Atala von
dem Einsiedler erteilt werden, findet beim Tode des Bischofs in
„Jocelyn“ ein Gegenstück. 217 )
Für „Jocelyn“ mögen diese Beispiele der Beeinflussung Lamar
tines durch Chateaubriands „Atala“ genügen. In „La Cliute d’un
Ange“ fällt uns zunächst Cedars Gefangenschaft als Gegenstück
zu der des Chactas auf; in beiden Dichtungen bringen die Frauen
dem gefesselten Fremdlinge ein besonderes Interesse entgegen und
hier wie dort ist es eine liebende Jungfrau, welche die Befreiung
des Gefangenen bewerkstelligt. Auch darauf sei hingewiesen, dafs
die Naturmenschen sowohl bei Chateaubriand wie bei Lamartine
ein gleich grofses Gewicht auf den Totenkult legen. Bei ersterem
nehmen die Indianer die Gebeine ihrer Vorfahren mit sich auf die
Wanderung, weil „c’est la terre de la patrie“; 218 ) Lamartine
sagt: „C’est la cendre des morts qui crea la patrie“, 219 ) und die
Totenklage, welche die junge Indianerin über ihr allzu früh ge
storbenes Kind anhebt, 220 ) findet eine würdige Parallele in den
innigen Schmerzensworten der Barbarenmutter in der „Chute d’un
Ange“. 221 )
Schliefslich ist im Allgemeinen nachdrucksvoll hervorzuheben,
dafs Lamartine sich in Chateaubriands Denkweise derart eingelebt
hat, dafs er häufig, offenbar ohne sich selbst dessen bewufst zu
sein, poetische Worte, Formeln, Motive usw. anwendet, welche be
reits Chateaubriand gebraucht hatte, so dafs in diesen Fällen also
nicht eigentliche Entlehnung vorliegt, sondern die Wirkung einer
geistigen Angleichung zu beobachten ist.
Nach dem Gesagten würde man zu der Erwartung berechtigt
sein, dafs Lamartine, da er teils bewufst, teils unbewufst Chateau
briand nachahmte, diesem stets hohe Verehrung gezollt habe.
Indessen bestätigt sich diese Erwartung nicht: Die Anerkennung,
die Lamartine als Jüngliug dem damals verehrten Meister in so