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liehe Denken zeitweilig sein dichterisches Schaffen völlig be
herrscht. 195 )
Auch im Einzelnen zeigt sich Lamartine als gehorsamer
Schüler Chateaubriands, indem er den poetischen Apparat zu
einem guten Teile dem Christentume entlehnte; so ersetzt er in
seinen Dichtungen die Götter und Genien der klassischen Dichtung
durch Engel, 196 ) was Chateaubriand den Dichtern aufs eindring
lichste empfiehlt. 197 )
Übrigens entlehnte Lamartine von Chateaubriand nicht nur
die religiöse bezw. christliche Tendenz für sein dichterisches
Schaffen: Er trug sich auch mit der Absicht, eine grofse zyklische
Dichtung abzufassen, deren Grundrifs von Chateaubriand im
G. d. ch. 198 ) angedeutet worden war. 199 ) Freilich sind von diesem
Zyklus nur zwei Episoden, „Jocelyn“ und „La Chute d’un Ange“
vollendet worden, aber auch in diesen hat der Dichter eine weitere
Forderung Chateaubriands erfüllt, nämlich die, dafs die Handlung
einer epischen Dichtung einer Übergangszeit angehören solle; 200 )
„La Chute d’un Ange“ zeigt uns den Kampf zwischen Polytheismus
und Monotheismus und „Jocelyn“ spielt in der Werdezeit der
grofsen Revolution. Andererseits dagegen ist Lamartine durch
seine Unfähigkeit zur objektiven Dichtung verhindert worden,
der Vorschrift Chateaubriands zu genügen, dafs im Epos die
Menschen und ihre Passionen den ersten Platz einnehmen sollen. 201 )
Aber auch Chateaubriand hat, weil gleichfalls der objektiven Dar
stellung unfähig, diesem Verlangen nicht nachzukommen ver
mocht. 202 ) — Nach Chateaubriands Vorgang 203 ) war schliefslich,
um noch eine Einzelheit anzufügen, auch ihm, Lamartine, der
Tod nicht das Schrecken erregende Gerippe, 204 ) sondern „un ange
ä la fois doux et severe“ (Chat.), ein „Liberateur celeste“ (Lam.).
Welchen Einflufs der gleichzeitig mit dem G. d. ch. veröffent
lichte Roman „Rene“ auf das Gemüt des jugendlichen Lamartine
ausübte, haben wir schon oben gesehen. 205 ) Auch an „Les Mar-
tyrs“ werden wir wiederholt durch die Verse Lamartines erinnert;
so hat ihm offenbar bei dem epischen Fragmente „L’Ange“ der
„Nouveiles Mediation“ hauptsächlich die Schilderung des Himmels
im dritten Buche der „Martyrs“ vorgeschwebt. — Das Motiv, dafs
ein in Weltabgeschiedenheit lebender Mönch gelassen dem Tode
entgegengeht, nachdem er sein geistliches Apostelamt einem Jünger
übertragen hat, ist von Lamartine nach dem Vorbilde des heiligen
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