Full text: Der Parallelismus zwischen Chateaubriand und Lamartine

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kennen. Ja, Lamartine findet gelegentlich sogar sehr glückliche 
Einzelzüge, um eine gewisse Eigenschaft der von ihm geschaffenen 
Gestalten hervorzuheben. So sind die ängstlichen Überlegungen, 
die Jocelyn bei der Betrachtung der wenigen von seiner greisen 
Mutter an ihn geschriebenen Worte anstellt, eine ansprechende 
Erfindung, um Jocelyns treue Kindesliebe zu kennzeichnen. 119 ) 
Aber entspricht das weitere Verhalten des Priesters dieser Cha 
rakterentwickelung? Nachdem die Mutter beerdigt ist, erwähnt 
der Sohn sie nicht mehr in seinen Aufzeichnungen, oder doch nur 
ganz gelegentlich. Denselben Fehler zeigt m. E. Jocelyn in seinem 
Verhalten der unglücklichen Laurence gegenüber; er vergifst sie 
zu schnell, — so mufs der Leser wenigstens glauben. Später zeigt 
uns der Dichter, dafs Jocelyns Gedanken sich noch viel mit der 
verlorenen Geliebten beschäftigten; indessen hören wir das erst 
kurz vor dem Zusammentreffen der beiden Liebenden in Paris, also 
an einer Stelle, wo wir es notwendig erfahren müssen, um das 
Folgende verstehen zu können. — Auch das ist im Laufe der Er 
zählung kaum hinreichend begründet; dafs Jocelyn sich schliefs- 
lich in seinem Priesterberufe wohl und zufrieden fühlt, nachdem 
er nach der Trennung von Laurence lange Zeit eine starke Ab 
neigung gegen denselben empfunden hat. 
Die Charakteristik der Laurence ist als verfehlt zu bezeichnen. 
Bei dem Zusammenleben Jocelyns mit Laurence und namentlich, 
als sich beide trennen müssen, schildert uns Lamartine mit grofser 
Anschaulichkeit die innige Liebe der Laurence zu ihrem Be 
schützer; auch in Paris, als sie sich dem Laster in die Arme ge 
worfen hat, gedenkt sie noch seiner, und schliel'slich treibt die 
Liebe sie an, vor ihrem Tode, den sie herannahen fühlt, nochmals 
die Stätten ihres einstigen Glücks in den Bergen zu besuchen. 
Niemals also vergifst sie Jocelyn; und deshalb erscheint es mir 
mit der sonstigen Schilderung ihres Charakters unvereinbar, dafs 
sie sich einem nicht geliebten Gatten vermählt und vollends, dafs 
sie sich schliefslich sogar dem Laster ergibt. 
Ähnliche Inkonsequenzen würden sich für die übrigen episch 
lyrischen Werke Lamartines nachweisen lassen. Indessen möge 
das Gesagte genügen, da es wieder von neuem den Parallelismus 
zwischen Chateaubriand und Lamartine hinreichend erkennen läfst.
	        
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