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Endlich sei noch darauf hingewiesen, dafs Chateaubriand, wie
schon oben erwähnt, 104 ) gern Zeiten der Ungläubigkeit in Gegen
satz bringt mit solchen strenger Religiosität — natürlich stets zu
Gunsten der letzteren — und dafs auch in diesem Umstande die in
Vorstehendem charakterisierte Tendenz zu erkennen ist.
Auch in dieser Beziehung ist für Lamartine eine Parallele zu
Chateaubriand festzustellen. Der Gesamtheit seiner Dichtung ist
gleichfalls ein durchaus religiöser Grundzug eigen, denn auch sein
Bestreben war es, seinem Vaterlande die Religion wiederzugeben. 105 )
Aber wieder müssen wir für Lamartine Chateaubriand gegenüber
eine Einschränkung machen: bei ihm wird die Religion nie Selbst
zweck, er drängt seinen Werken nie eine religiöse Tendenz auf.
Ihm gilt nach den Versuchen Chateaubriands dessen These, dafs
das Christentum sich ebensogut für die Dichtung eigne wie der
Polytheismus des klassischen Altertums, als erwiesene Tatsache,
und so schafft er in demselben Sinne weiter. Die Poesie ist ihm
„le premier cri qui est remonte ä [Dieu] de Phumanite! Ce sera
aussi le dernier cri que le createur entendra s’elever de son ceuvre,
quand il la brisera. Sortie de lui, eile remontera ä lui“. 106 )
. Deux elements“, sagt Dechanei, 107 ) „caracteris ent sa
poesie: la religion et Pamour,“ und an einer anderen Stelle schreibt
er: „. . . l’insertion singuliere d’„Atala“ et de „Rene“ dans le G.
d. ch. avait pu preparer les esprits ä ce melange de la religion et
de Pamour.“ 108 ) Aber diese beiden Elemente, Liebe und Religion,
sind nicht überall in den Werken Lamartines gleich stark ver
treten; in den „Premieres Meditations“ scheint die Liebe vorzu
herrschen, die Religion in der zweiten Sammlung. 109 ) In den
„Harmonies“ „Pintention du poete est d’eliminer Pamour, afin que
la religion regne seule. — Ce que Chateaubriand a entrepris en
prose, I^amartine parait s’etre propose de le continuer en vers, par
les „Harmonies poetiques et religieuses“. 100 )
In „Jocelyn“ bedingt schon der Umstand, dafs ein junger
Geistlicher der Held des Epos ist, ein starkes Hervortreten der
christlichen Religion und in „La Chute d’un Ange“ hat der
Dichter geschickt religiöse Züge auch dort einzuflechten gewufst,
wo der Leser sie nicht erwartet, 110 ) während die zweite Hälfte
dieses Epos, die man mit Recht „Les Martyrs“ überschreiben
könnte, neben der Liebe wieder der Religion den Hauptplatz
einräumt.