52
verinnerlichten, nicht an Dogmen haftendem Glauben. Deshalb
verlangt er die Trennung von Staat und Kirche, da notwendiger
weise bei der Verschiedenheit der beiden Einrichtungen die eine
die andere nachteilig beeinträchtigen mufs; 92 ) gleichzeitig aber
fordert er aufs nachdrücklichste die Verbreitung christlichen Sinnes
und Empfindens in allen Klassen des Volkes. In diese Rolle
christlich sozialen Wirkens lebt sich Lamartine mit der Zeit so
ein, dafs er sich schliefslich mit Christus selbst vergleicht. BS )
Jedoch auch bei diesen religiösen Ansichten seiner Reifezeit
blieb Lamartine nicht beharren; der Möglichkeit, seine Lehren von
der Tribüne aus oder mit der Feder erfolgreich zu verbreiten,
durch die Zeitverhältnisse beraubt, verzichtete er auf das sozial
tätige Christentum und kehrte gegen seinen Lebensabend zu dem
Glauben seiner Kinderjahre zurück. Nicht, als ob er sich den
Dogmen der katholischen Kirche wieder zugewandt hätte, 94 ) „sa
piete deviut plus precise, plus vivante, plus humaine“. 95 ) Die
Hoffnung auf ein Wiedersehen im Jenseits, die ihn sein ganzes
Leben hindurch beseelt hatte, wurde jetzt zuversichtlicher, be
stimmter und fafsbarer, sein Glaube ein mehr spezifisch christ
licher. Gott, den er vorher gewöhnlich als „la Providence“ be-
zeichnete, nannte er jetzt viel häufiger „Vater“; aber eine äufsere
Offenbarung Gottes erkannte er auch jetzt noch nicht an.
Wenn Lamartine durch den Empfang der letzten Ölung
scheinbar als katholischer Christ starb, so wollen wir mit Cor-
delier 96 ) diese Tatsache nicht als Widerruf der von ihm bis dahin
vertretenen freireligiösen Ansichten betrachten, sondern darin
lediglich ein Zugeständnis an den allgemeinen Brauch erblicken
und uns entsinnen, dafs er auch in seinen früheren Jahren ge
legentlich den katholischen Ritus befolgte, ohne dabei besonderes
Gewicht auf ihn zu legen. 97 )
Eine ähnliche Änderung und Erweiterung der religiösen An
sichten Chateaubriands ist von seinem G. d. ch. an nicht nach
zuweisen. Er hat mit diesem Werke seinen Standpunkt festgelegt
und erachtet sich für verpflichtet, an ihm wenigstens äufserlich
festzuhalten, nachdem er als Verteidiger des Christentums auf
getreten und als solcher mit lautem Jubel begrüfst worden war.
Obgleich, wie nachgewiesen 98 ), einem aufrichtigen religiösen Ge
fühle entsprungen, ist der G. d. ch. mehr das Resultat einer
mächtig lodernden Begeisterung als das Ergebnis einer anhaltenden^
wahrhaft empfundenen, christlichen Überzeugung. Gas Glauben