Full text: Der Parallelismus zwischen Chateaubriand und Lamartine

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verinnerlichten, nicht an Dogmen haftendem Glauben. Deshalb 
verlangt er die Trennung von Staat und Kirche, da notwendiger 
weise bei der Verschiedenheit der beiden Einrichtungen die eine 
die andere nachteilig beeinträchtigen mufs; 92 ) gleichzeitig aber 
fordert er aufs nachdrücklichste die Verbreitung christlichen Sinnes 
und Empfindens in allen Klassen des Volkes. In diese Rolle 
christlich sozialen Wirkens lebt sich Lamartine mit der Zeit so 
ein, dafs er sich schliefslich mit Christus selbst vergleicht. BS ) 
Jedoch auch bei diesen religiösen Ansichten seiner Reifezeit 
blieb Lamartine nicht beharren; der Möglichkeit, seine Lehren von 
der Tribüne aus oder mit der Feder erfolgreich zu verbreiten, 
durch die Zeitverhältnisse beraubt, verzichtete er auf das sozial 
tätige Christentum und kehrte gegen seinen Lebensabend zu dem 
Glauben seiner Kinderjahre zurück. Nicht, als ob er sich den 
Dogmen der katholischen Kirche wieder zugewandt hätte, 94 ) „sa 
piete deviut plus precise, plus vivante, plus humaine“. 95 ) Die 
Hoffnung auf ein Wiedersehen im Jenseits, die ihn sein ganzes 
Leben hindurch beseelt hatte, wurde jetzt zuversichtlicher, be 
stimmter und fafsbarer, sein Glaube ein mehr spezifisch christ 
licher. Gott, den er vorher gewöhnlich als „la Providence“ be- 
zeichnete, nannte er jetzt viel häufiger „Vater“; aber eine äufsere 
Offenbarung Gottes erkannte er auch jetzt noch nicht an. 
Wenn Lamartine durch den Empfang der letzten Ölung 
scheinbar als katholischer Christ starb, so wollen wir mit Cor- 
delier 96 ) diese Tatsache nicht als Widerruf der von ihm bis dahin 
vertretenen freireligiösen Ansichten betrachten, sondern darin 
lediglich ein Zugeständnis an den allgemeinen Brauch erblicken 
und uns entsinnen, dafs er auch in seinen früheren Jahren ge 
legentlich den katholischen Ritus befolgte, ohne dabei besonderes 
Gewicht auf ihn zu legen. 97 ) 
Eine ähnliche Änderung und Erweiterung der religiösen An 
sichten Chateaubriands ist von seinem G. d. ch. an nicht nach 
zuweisen. Er hat mit diesem Werke seinen Standpunkt festgelegt 
und erachtet sich für verpflichtet, an ihm wenigstens äufserlich 
festzuhalten, nachdem er als Verteidiger des Christentums auf 
getreten und als solcher mit lautem Jubel begrüfst worden war. 
Obgleich, wie nachgewiesen 98 ), einem aufrichtigen religiösen Ge 
fühle entsprungen, ist der G. d. ch. mehr das Resultat einer 
mächtig lodernden Begeisterung als das Ergebnis einer anhaltenden^ 
wahrhaft empfundenen, christlichen Überzeugung. Gas Glauben
	        
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